XVIII. Symposium für jiddische Studien in Deutschland 2015
Vom 12. bis zum 14. Oktober fand in Trier das XVIII. Symposium für Jiddische Studien in Deutschland statt
Jedes Jahr im Herbst trifft sich die Fachwelt der Jiddistik, um im Rahmen des Symposiums für Jiddische Studien in Deutschland laufende Projekte vorzustellen, angeregte Diskussionen zu führen und Meinungen, Ratschläge und Anregungen auszutauschen. Das Symposium wird abwechselnd vom Lehrstuhl für Jiddistik der Universität Trier sowie dem Lehrstuhl für Jüdische Kultur, Sprache und Literatur der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf ausgerichtet und stellt eine wichtige Plattform des wissenschaftlichen Austausches dar.
Ebendies bekräftigte auch der Vizepräsident der Universität Trier, der unter anderem selbst im Gebiet der Jiddistik arbeitende Altphilologe Martin Przybilski, in seinem Grußwort an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Es handele sich bei der Jiddistik um ein kleines, aber blühendes Fach. Diese Tatsache führe im Hinblick auf den akademischen Alltag zu einigen Besonderheiten. So nehmen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oft lange Anfahrtswege in Kauf, um in den Genuss eines direkten Austauschs mit Kolleginnen und Kollegen zu kommen.
Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler hatten auch dieses Jahr wieder die Gelegenheit, ihre Forschungsprojekte direkt neben den Koryphäen und alteingesessenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Disziplin Jiddistik zu präsentieren. Rednerinnen und Redner aus den USA, Israel, den Niederlanden, Russland, Belgien, Tschechien, Dänemark und Ungarn reisten für das dreitägige Symposium an. Das breite Spektrum der Themen belegte erfreulich vielseitige Forschungsaspekte und -interessen.
Efrat Gal-Ed (Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf) eröffnete den Reigen der Vorträge. Sie sprach über Di toyte shtot (Die tote Stadt) von Jizchok Leib Perez (1852-1915), einem der ganz großen Schriftsteller des Jiddischen, und stellte anhand seines damit einhergehenden Briefwechsels neue Erkenntnisse vor, etwa dessen Nähe zum Schrifttum der Dekadenzliteratur um 1900. Dabei gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass Perez sein Werk zunächst wohl als Auftragsarbeit zügig in Hebräisch abfasste und es erst später aufgrund ihres großen Potentials auch in einer verbesserten jiddischen Version niederschrieb.
Im modernen Jiddisch des 20. Jahrhunderts bewegte sich Carmen Reichert (Ludwig-Maximilians-Universität, München), die die Arbeit an ihrer Dissertation präsentierte, welche unter anderem jiddische Gedicht-Anthologien umfasst. Hierbei unterstrich die Referentin insbesondere die Begriffe Profanierung sowie Sakralisierung, die bei der Genese jiddischer Gedichte eine wichtige Rolle spielten, und machte dies an zwei Anthologien fest.
Mit Rachel Rojanski (Brown University, Providence) und Szonja Rahel Komoroczy (Eötvös Loránd Universität) wurden die ersten beiden jiddischsprachigen Vorträge des Symposiums gehalten. Dabei beschäftigte sich Rojanski mit der israelischen Rezeption des Schriftsteller Itzik Manger (1901-1969) und dessen Esther-Dichtungen (Megile-lider) für das Theater. Komoroczy stellte ihre Forschungsergebnisse zum jiddischen Theaterleben der ehemaligen ungarischen Länder (Karpatenurkraine/Karpato-Rus) in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhundert vor. Auch in das 20. Jahrhundert fällt der – wiederum in Jiddisch gehaltene – Werkstattbericht Miriam Trinhs (Hebräische Universität, Jerusalem), worin die große Bandbreite der neu durch das New Yorker Yivo-Institut angekauften Nachlass-Bibliothek des wichtigen jiddischen Schreibers Chaim Grade (1910-1982), in das auch der Nachlass dessen zweiter Frau Inna Heker-Grade einfloss, beschrieben wurde. Dabei handelt es sich zweifellos um einen wichtigen oyster (Schatz), welcher derzeit katalogisiert und auch digitalisiert wird.
In der Frühen Neuzeit bewegten sich Claudia Rosenzweig (Bar-Ilan Universität, Tel-Aviv), Marion Aptroot (Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf), Ute Simeon (Universitätsbibliothek Frankfurt) und Clemens P. Sidorko (Universität Basel).
Eine noch kaum beachtete Handschriftenversion der beliebten Alexandergeschichte aus dem 16. Jahrhundert war das Thema Rosenzweigs, die wiederum auf Jiddisch sprach. Sie stellte bemerkenswerte Unterschiede bzw. Eigenheiten aber auch Gemeinsamkeiten dieser Handschrift zum weiteren bekannten Alexanderstoff heraus. Rege diskutiert wurde von den Teilnehmern des Symposiums, inwiefern solche literarisch-volkstümlichen Berichte über historische Begebenheiten unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt das historische Bewusstsein ihrer Rezipienten beeinflussten.
An der Universität Trier ist die Jiddistik im Fachbereich II der Germanistik angegliedert. Die Ausrichtung des Faches jedoch ist aufgrund des Gegenstandes interdisziplinär. So mag es für Studenten der Sprach- und Literaturwissenschaft überraschen, dass man es als Forscher der jiddischen Sprache oft mit jahrhundertealten Originalquellen, die zuvor kaum bearbeitet worden sind zu tun bekommt. So berichtete Aptroot aus der Zeit des Buchdrucks vom richtigen Umgang mit altjiddischen Drucken und sensibilisierte hier für größere Aufmerksamkeit bezüglich kleiner Schriften und kleiner Bücher, insbesondere auch für Ephemera. Ihr Material stammte aus Amsterdam und wurde nachweislich oftmals mit einem gewissen Stolz sowie großer Sorgfalt gedruckt.
Neben den sprachlichen Erzeugnissen liegen auch stets die historischen Gegebenheiten ihrer Entstehung im Blickpunkt des Interesses. So referierte die Judaistin Simeon über Pessel Balaban, die als Verlegerin in Lemberg Ende des 19. Jahrhunderts zu einigem Einfluss mit ihrem Druckhaus kam. Der vielseitig interessierte Historiker, Islamwissenschaftler und Slawist Sidorko stellte die Geschichte des jüdischen Buchdrucks in Basel im 16. und 17. Jahrhundert und damit gleichzeitig sein gerade erschienenes Buch "Basel und der jiddische Buchdruck (1557-1612)" vor. Diese Drucke lesen sich nach Einschätzung des Referenten wie ein who is who der damaligen (hebräischen, jiddischen usw.) Bestseller und lösten allmählich die jüdische Literatur der primären Eliten – nämlich die der Rabbinen – durch die Literatur der sekundären, jüdisch-bürgerlichen Elite ab.
Linguistische Beiträge waren auch auf dem 18. Symposium wiederum stark vertreten. Die Referentinnen und Referenten waren Steffen Krogh (Universität Aarhus, Dänemark), Lea Schäfer (Philipps-Universität, Marburg), Lenka Uličnà (Palacký Universität, Olmütz), Simon Neuberg (Universität Trier), Vasilisa Andriianetc, Ivan Levin (beide School of Linguistics, Moskau), Gershn (Josua) Price und Miriam Schulz (beide Columbia Universität, NY). Krogh, langjähriger Teilnehmer und Redner des Symposiums gab eine eindrückliche Momentaufnahme des Antwerpener Jiddisch, welches als besonders hochwertiges lebendiges Jiddisch aufgefasst wird, und tat dies ebenfalls mit Audiobeispielen von drei chassidischen Informanten. Damit bewegte er sich in der neuesten Phase der jiddischen Sprache des 21. Jahrhundert und behandelte speziell das transkarpatische (ungarische) Jiddisch.
Diachron betrachtend sprach die Referentin Schäfer unter Rückgriff auch verschiedene jiddische Textcorpora über verschiedene Typen von kumen-Periphrasen und verglich diese miteinander, aber auch kontrastiv zum Deutschen. Daraus schloss sie verschiedene semantische Funktionen dieser Periphrasen. Die Judaistin Uličnà untersuchte an einer Handschrift die Sprache der Polizeiordnung für die mährischen Juden und leistete damit einen Beitrag zum Verständnis des Sprachverhaltens der mährisch-jüdischen Schriftgelehrten im 18. Jahrhundert. Die philologischen Arbeiten des in Vilnius von den Nationalsozialisten ermordeten Noah Prilutzki (1882-1941) waren – wiederum auf Jiddisch –das Thema Neubergs.
Andriianetc und Levin sprachen über ihre Arbeiten zum morphologischen Augment -et im schriftlichen und mündlichen Jiddisch bzw. über die Verwendung der Partikel zhe, dokh und den im Jiddischen und über Analogien dieser Sprachstrukturen in slawischen und germanischen Sprachen. Mit Übersetzungstheorien und den Übersetzungen aus oder ins Jiddische bei Chaim Zhitlowski (1865-1943) für den amerikanischen sowie Moses Litwakow (1875/80-1939) für den sowjetischen Raum befasste sich Price. Seine Kollegin Schulz untersuchte auf der Grundlage von Ber Berochov (1881-1917) das Zusammenspiel von postulierter Rasse und gesprochener Sprache.
Auch auf dem Gebiet der Lexikographie waren drei Beiträge vertreten: Justus van de Kamp und Mirjam Gutschow (beide Amsterdam) stellten die weit fortgeschrittenen Arbeiten am Jiddisch-Niederländischen Wörterbuch vor. Dabei forderte van de Kamp eine Ausweitung des lexikographischen Fokus auch auf eine Aufnahme von (teils nichtliterarischen) Texten, Fachliteratur, Schulbüchern und Kleinstwerken sowie Übersetzungsliteratur des Jiddischen, wofür er reichlich Beispiele anführte. Gutschow, die ebenfalls im Wörterbuch-Projekt mitwirkt, erörterte ihre Vision eines interaktiven digitalen Wörterbuchs und zeigte die vielfältigen Möglichkeiten der Online-Präsentation. Jos. A. Janssen (Hasselt) erörterte sein Wörterbuch der Slawismen im Jiddischen, Di slavishe yerushe, und dessen Potential. Auch wenn eine gedruckte Form nicht publiziert ist, sei sein Status "vorläufig definitiv".
Auch in diesem Jahr wurde wieder für ein kulturelles Abendprogramm Sorge getragen: Der in Buenos-Aires aufgewachsene Jiddisch-Muttersprachler, vormalige Jiddisch-Lektor an der Universität Trier und Schauspieler Rafael Goldwaser (Straßburg) rezitierte mit einer lebhaften Mischung aus Leidenschaft und Präzision jiddische Übersetzungen von Gerhard Hauptmann, Karl Marx, Rainer Maria Rilke und den Brüdern Grimm. Auf Wunsch der Anwesenden trug Goldwaser ein Stück des vielleicht größten jiddischen Schriftstellers Scholem Alejchem (1859-1916) vor.
Zu Ehren von Erika Timm, emeritierte Professorin und Mitbegründerin des Symposiums, welches mit dem 18. Jahr das simen khay erreichte, sprachen Goldwaser und Neuberg einen philologischen Text Noah Prilutzkis, der nach knapp 100 Jahren seine Aktualität nicht eingebüßt hat.
Die Vielfalt der Themen ebenso wie die wachsende Teilnehmerzahl beweisen nachdrücklich, dass die Jiddistik ein lebendiges und produktives Fach ist. Davon konnten sich alle Referentinnen und Referenten sowie die Gäste während der drei Tage überzeugen.
Das XIX. Symposium für Jiddische Studien in Deutschland wird wieder an der Universität Düsseldorf stattfinden vom 12. bis 14. September 2016.
Julia Kettenring und Andreas Lehnertz, Trier