Vorwort

"Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern heißt lesen. In diesem lehrreichen und ergötzlichen Werke, mit naturgetreuen Abbildungen so reichlich ausgestattet, blättre ich täglich einige Stunden lang."
(Ludwig Börne, 1822)


Der deutsche Schriftsteller Ludwig Börne befand sich zum zweiten Mal in Paris, als er diese Zeilen schrieb. Er war aus Interesse mit seiner Freundin nach Paris umgezogen und studierte vor Ort den Nachbarn jenseits des Rheins.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Reisen jedoch keineswegs selbstverständlich, sondern einer Minderheit vorbehalten. Diese reiste entweder aus freiem Willen und mit den nötigen Mitteln (Zeit und/oder Geld) versehen durch die Welt oder war durch wirtschaftliche, politische, berufliche, gesundheitliche und andere Umstände dazu gezwungen.

Wer in jener Zeit daheim blieben durfte oder mußte, der suchte sich durchaus einen ’Reiseersatz’. Um ferne Gebiete kennenzulernen, las man Bücher, studierte Zeichnungen, Druckgraphiken und Gemälde, besuchte Laterna Magica-Vorstellungen, schaute in Guckkästen u.ä. Oder man wanderte durch ethnographische bzw. naturkundliche Museen und betrachtete in Vitrinen ausgestellte Götterstatuen, Schrumpfköpfe, ausgestopfte Tiere und Planzenpräparate, die andere auf Reisen gesammelt und museal aufbereitet hatten.

Später besuchte man Panoramen und Dioramen, ging zu Völkerschauen in den Tierpark, sah sich auf dem Jahrmarkt Vertreter fremder Ethnien an, ging durch Kolonial- und Weltausstellungen (sofern sie vor Ort stattfanden), erhielt neben Briefen mit Reiseschilderungen von Bekannten auch Postkartengrüße und studierte Plakate, (Stereo-)Photographien und, nach 1895, auch ’Reisebilder’ im Kinematographen.

Wer nicht selbst reisen wollte oder konnte, bekam also statt dessen Impressionen aus fremden Ländern 'nach Hause' geliefert. Unterschiedliche Medien informierten zum Teil sehr ausführlich über Sitten und Gebräuche wenig oder vollkommen unbekannter Völker, über Städte und Landschaften jenseits der unmittelbaren Umgebung. Bequem daheim im Sessel oder bei einem ’Lieferanten’ nicht weit entfernt von seiner Wohnung verfolgte der Interessierte die Reiseabenteuer anderer, aus der sicheren Distanz heraus, und ohne die Mühen (ungewohntes Klima, Krankheiten u.a.) zu spüren, welche die Berichtenden auf sich genommen hatten.


Letztere schufen Photographien, Filme, Zeitungsreportagen, Briefe und andere Informationsträger, um (persönliche) Beobachtungen zu übermitteln oder, sofern sie im Auftrag einer Einrichtung arbeiteten, eine institutionelle Meinung zu einem Thema (z.B. Kolonien, Missionsarbeit) zu kommunizieren. Ihre Botschaft richteten sich an einen bestimmten Empfängerkreis (Familie, Gemeindemitglieder, Schüler, Kinobesucher etc.) und beeinflußten häufig dessen Imagination aufgrund der ihnen eigenen Authorität (Eltern ihre Kinder, Lehrer ihre Schüler, Pfarrer die Gläubigen).

Die Ausstellung ’Grüße aus Viktoria. Mit dem Lehnstuhl durch die weite Welt’ im Filmmuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf zeigt eine Auswahl unterschiedlicher ’Botschafter’, die Impressionen aus fernen Gegenden nach Hause brachten und dadurch das Bild, das sich ihre nicht reisenden Zeitgenossen von der Fremde machten, beeinflußten. Einigen Vermittlungsinstanzen und Medien sind die Beiträge in diesem Begleitband zur Ausstellung gewidmet.

Als Dozentin an der Universität Sheffield und Leiterin des dortigen Fairground Museum verfolgt Vanessa Toulmin die Spur fremder Ethnien, die auf dem Jahrmarkt und bei jahrmarktsähnlichen Anlässen wie Völkerschauen gezeigt wurden. Das staundende Publikum kam bei diesem ethnologischen Showbusiness erstmals live mit Schwarzafrikanern, Indianern, Eskimos oder Asiaten in Kontakt. Es konnte sich von deren Aussehen und Verhalten selbst überzeugen, betrachtete sie aber – u.a. durch den Rahmen, in dem die Veranstaltung stattfand (Inszenierung, Kulissen, Anpreisung als Attraktion), und durch den Veranstaltungsort – weniger als Menschen denn als Kuriositäten. Gerade in Zeiten des Imperialismus bestätigte die tierähnliche Präsentation ‘rassischer’ Gruppen den weißen Betrachter in seiner Meinung, er sei diesen Völkern überlegen: Politik, Wirtschaft und Kirche hatten es unter diesen Umständen leicht, ihre kolonialen Aktivitäten als notwendig und gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

Afrika, wo Deutschland die meisten Kolonien besaß, ist der Bezugspunkt mehrerer Autoren. In Ost-, West- und Südafrika standen von 1884 bis zum Abschluß des Friedensvertrags von Versailles im Mai 1919 mehrere Gebiete unter dem ’Schutz’ des Deutschen Reichs. Nachdem erst die Kirche Angehörige zur Missionierung der 'Heiden' nach Afrika entsandt hatte, zogen nun Abenteurer wie Carl Peters, Firmen bzw. das Militär nach.

Der Schweizer Filmhistoriker und -dozent Roland Cosandey kommentiert den Expeditionsbericht des Baseler Jägers und Tierfängers Adam David, der von Dezember 1909 bis August 1910 den französischen Filmemacher Alfred Machin auf seiner 2. Expedition in die Gebiete des Oberen Nil begleitete. (Der Bericht der ersten gemeinsamen Expedition erschien in KINtop 10, 2002.) Davids Beschreibung der Lebens- und Arbeitsgewohnheiten einiger Stämme im Sudan weisen den Schweizer als Europäer aus, der Afrika als Lieferanten für Elfenbein, Häute und lebende exotische Tiere betrachtet. Dies drückt sich auch in den meisten Filmen aus, die Pathé frères im Anschluß auf den Markt brachte und die in Deutschland in die Kintopps kamen. Die hier veröffentlichte Schilderung aus dem Jahre 1916 gibt den typischen Verlauf einer Jagdexpedition wieder, wie sie z.B. von prominenten Persönlichkeiten wie dem Präsident der USA, Theodore Roosevelt (1910, Afrika) oder John Hagenbeck (Mitglied der berühmten Hamburger Zoofamilie) bereits vor 1900 nach Indien, Sumatra und Ceylon unternommen wurde.


Im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Universität Utrecht untersucht Wolfgang Fuhrmann aus Kassel das Bild des Schwarzen Kontinents im Kolonialfilm der Frühzeit. Die Filme präsentieren deutsche bzw. europäische Kolonialvertreter, die sich abbilden lassen, um ihre Verdienste – Verbesserung der Infrastruktur durch den Bau von Straßen, Brücken und Eisenbahnen, Hebung des Bildungs(not)stands durch die Gründung von Schulen, Sicherung der medizinischen Versorgung durch den Bau von Hospitälern – in der Heimat ins ’rechte Licht’ zu rücken und für ihr Vorhaben, dem ’dunklen Kontinent’ endlich das ’Licht der Zivilisation’ zu bringen, zu werben. Die Unterdrückung und Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung, gar die Vernichtung ganzer Stämme u.a. bei ’Strafexpeditionen’, wurde dagegen nicht filmisch dokumentiert..

Ähnliche Vorstellungen trieben bereits lange vorher katholische und protestantische Missionare nach Afrika. Aus einer Magisterarbeit u.a. über den Kolonial- und den Missionsfilm und einem noch nicht realisierten Dissertationsvorhaben entstand Gerlinde Waz' Darstellung der kirchlichen Filmarbeit in Afrika. Die Mitarbeiterin der Deutsche Kinemathek in Berlin beschreibt die systematischen Verbreitung der Filme in deutschen Gemeinden, um die Tätigkeit der äußeren Mission zu rechtfertigen und für ihre Unterstützung zu werben. Betrachtet man allein die Präsenz Jugendlicher in evangelischen und katholischen Verbänden (das Statistische Jahrbuch des deutschens Reichs gibt z.B. für das Jahr 1927 1.476.000 Mitglieder für beide Konfessionen an) und denkt zudem an die weit stärkere Verbundenheit der Menschen damals mit ihrer Pfarrei, erreichten die Filmvorstellungen im Gemeindesaal sicher einen sehr großen Personenkreis. Das Bild des ’primitiven, wilden, instinktgetriebenen Schwarzen’, der erst durch den Missionar zu einem ’Menschen’ wird, rührte Herz wie Verstand und ließ den ‘Nickneger’, der wohl noch bis Anfang der 1960er Jahre in vielen Kirchen zu finden war, eifrig den Kopf bewegen.

Neben Afrika zog auch das Gebiet des östlichen Mittelmeers im 19. und 20. Jahrhundert viele Reisende an. Annette Deeken, Dozentin für Film an der Universität Trier und Co-Autorin eines Buchs über reisende Frauen im 19. Jahrhundert, zeichnet das Bild des Orients nach, wie es in Filmen aus der Frühzeit erscheint. Ihr Interesse gilt vor allem den traditionell besuchten Stätten wie dem Heilige Land, Ägypten und der Türkei, wo sich die Spuren der Kreuzritter, Pilger, Archäologen und Abenteurer kreuzen, doch wird hier auch die filmische Darstellung islamischer Länder an der Nordküste Afrikas berücksichtigt. Dabei zeigt sich eine Kontinuität der Motive in der Reiseliteratur und im Film.


Ein Beispiel für den Versuch, Bilder zur Vermittlung zwischen Nationen einzusetzen, liefert die Australierin Paula Amad, die an der Universität von Chicago eine Doktorarbeit über “Film als Instrument zur Archivierung und Anti-Archivierung des Alltäglichen“ schrieb: Der französische Bankier Albert Kahn entsandte zwischen 1908 und 1931 Photographen und Kameramänner in alle Welt, um Bilder selbst aus entlegeneren Winkeln der Erde für seine Archives de la Planète in Boulogne bei Paris zu erhalten. Die Aufnahmen führte er bekannten Persönlichkeiten aus Politik, Industrie, Wissenschaft, Religion, Kunst und Literatur vor. Er hoffte, durch die Verbreitung von Wissen über 'den Anderen' könne er zur Völkerverständigung beitragen und dadurch helfen, Kriege zu verhindern, getreu der Vorstellung: Wer seinen Nachbarn kennt, wird dessen Reaktionen besser einschätzen können und eher geneigt sein, Auseinandersetzungen friedlich zu lösen.

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