Editorial

Angesichts der Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in der die europäischen Kinoleinwände und Fernsehbildschirme weitgehend von US-amerikanischen Produktionen dominiert werden, mag es überraschen, daß in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Filme aus Europa in den Vereinigten Staaten prominent vertreten waren. Einer Berechnung George Eastmans zufolge verkaufte allein die französische Firma Pathé Frères 1907 nahezu doppelt so viele Meter Positivfilm in den USA wie alle amerikanischen Firmen zusammen. Wie Pathé ließen sich auch andere Firmen wie Georges Méliès’ Star-Film oder Eclair an der Ostküste nieder, errichteten dort später auch Studios und produzierten direkt für den US-Markt. Ab 1908 formierte sich dann in den Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund einer allgemeinen gesellschaftlichen Debatte um die Gefahr der ‚Überfremdung’ durch die vielen Einwanderer der Widerstand gegen die ‚ausländischen’ Filme und deren Einfluß auf das Publikum: Die Forderung nach einer ‚Amerkanisierung’ des Kinos wurde immer lauter.

Auch im Bereich des frühen Kinos richtete sich das Hauptaugenmerk der Filmgeschichtsschreibung lange Zeit auf die jeweilige nationale Filmproduktion, später dann auch auf die Entstehung einer Kinokultur und die Institutionalisierung des neuen Unterhaltungsmediums unter spezifischen nationalen Bedingungen. Mit dem vorliegenden Band von KINtop wollen wir einige neuere Studien präsentieren, die sich mit verschiedenen Aspekten der transatlantischen Filmbeziehungen auseinandersetzen. Diese Ausgabe ist Teil eines internationalen Forschungsprojekts zur Migration europäischer Filmschaffender in die USA, das von der Maison des Sciences de l’Homme in Paris koordiniert wird.

In seiner Studie zur Rolle von Pathé Frères in den USA während der Jahre vor 1906 zeigt der amerikanische Historiker Richard Abel, daß der dann einsetzende „Nickelodeon Boom“ durch den stetigen Strom von Filmen aller Gattungen aus den Produktionsstätten der französischen Firma entscheidend mit stimuliert wurde. Das Markenzeichen des „roten Hahns“ bürgte Betreibern wie Zuschauern dafür, daß jede Woche qualitativ hochwertige Neuheiten auf der Leinwand zu sehen waren. Hierdurch wurden die Voraussetzungen für die Entstehung eines landesweiten, lebensfähigen Markts für die moving pictures überhaupt erst geschaffen.

Trotz der um 1908 einsetzenden Diskussionen um die ‚verderblichen’ Einflüsse ausländischer Produktionen, wird das ‚Französische’ in der Fachpresse auch noch in den frühen zehner Jahren immer wieder als Synonym für ‚Klasse’ angesehen. So auch bei vielen der von Nanna Verhoeff behandelten Western, die Pathé als Reaktion auf die ‚Amerikanisierungsbestrebungen’ zu dieser Zeit in den USA dreht. Doch wie amerikanisch (oder europäisch) sind Filme über den amerikanischen Westen, die von einer französischen Firma an der Ostküste der USA gedreht und dann auch auf dem internationalen Markt vertrieben werden?

Häufig wird den moving pictures auch eine wichtige Rolle bei der kulturellen Eingewöhnung, der ‚Amerikanisierung’ der Einwanderer zugeschrieben. Am Beispiel des Kinobetreibers Charles Steiner und seines jüdischen Publikums aus der Lower East Side in New York beschreibt Judith Thissen, wie das Programmangebot von muving piktschurs und jiddischem Vaudeville über die Themenwahl eine Verbindung mit der alten Heimat bietet und die Zuschauer andererseits an der modernen amerikanischen Unterhaltungskultur teilhaben läßt.

Michael Wedels Beitrag zur Karriere von Mime Misu, dem Regisseur des ersten Titanic-Films IN NACHT UND EIS (1912) macht deutlich, wie sehr die deutsche Filmindustrie bereits in den zehner Jahren den amerikanischen Markt im Blick hatte. Nicht nur, daß Misu sich einem deutschen Produzenten gegenüber als amerikanischer Regisseur ausgegeben haben soll, um die Realisierungschancen seines ersten Projekts zu erhöhen, ist hier von Bedeutung. Den Stellenwert transatlantischer Strategien bei der Verwertung von kulturellem Kapital
belegt vor allem die Auseinandersetzung um die gleichzeitigen Mirakel-Verfilmungen von Misu und Max Reinhardt.

Rainer Rother präsentiert und kommentiert einen bemerkenswerten Fund: einen in Deutschland offenbar seinerzeit nicht veröffentlichten Artikel aus dem Jahr 1917, verfaßt von dem deutschen Diplomaten Carl Ludwig Duisberg, der Griffith’ INTOLERANCE als eine „Revolution in der Filmkunst“ beschreibt. Das Dokument stammt aus einem Aktenbestand mit Vorgängen, die im Auswärtigen Amt unter dem Stichwort „Filmpropaganda“ abgelegt worden sind.

Den Abschluß des Schwerpunkts bildet eine von Hanns-Georg Rodek ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellte Liste mit über 400 Namen von aus Europa stammenden Schauspielern, Regisseuren, Technikern, Unternehmern usw., die vor 1920 an Filmproduktionen in den USA beteiligt waren. Die Liste wird laufend ergänzt und soll im kommenden Jahr auf der KINtop-Website zugänglich gemacht werden.

Außerhalb des Schwerpunkts veröffentlichen wir eine Artikelserie des Schweizer Zoologen und Jägers Adam David aus dem Jahr 1908, der den Lesern der Basler Nachrichten von einer Expedition berichtet, auf der er von Alfred Machin, Kameramann für Pathé Frères, begleitet wurde. Dieses für die frühe non-fiction-Praxis außerordentlich aufschlußreiche Dokument wird von Roland Cosandey eingeleitet und annotiert. Der Abdruck eines zweiten Berichts über eine Expedition aus dem Jahr 1910 soll in einer späteren Ausgabe von KINtop folgen.

Jürgen Keipers Beitrag zur Präsentation von Filmen aus der Frühzeit auf DVD  (Links zu Frühen Filmen auf DVD) schließt an bereits früher in KINtop erschienene Aufsätze an, in denen es um die Visualisierung filmgeschichtlicher Forschungen ging. Annette Förster bespricht neuere Arbeiten zu Louis Feuillade, insbesondere den anläßlich der Retrospektive der Giornate del Cinema Muto 2000 erschienenen Sonderband der Zeitschrift 1895.

Die nächste Ausgabe von KINtop, die 2002 erscheint, ist dem Themenschwerpunkt „Kinematographen-Programme“ gewidmet.

Den Autorinnen und Autoren danken wir dafür, daß sie ihre Beiträge für KINtop unentgeltlich geschrieben haben. Für ihre Hilfe beim Zustandekommen dieser Ausgabe danken wir Margret Schild (Filmmuseum Düsseldorf) sowie Marliese Baumann, Maria Louise Sachs, Agnes Schindler und Gabi Stephan (Universität Trier). Dem Nederlands Filmmuseum danken wir für das freundliche Entgegenkommen. Der besondere Dank von Redaktion und Verlag gilt der Maison des Sciences de l’Homme, Paris, für ihre Unterstützung.

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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