PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE, 1907. Der erste und sehr „barocke“ Cello-Film

Quelle: Galerie Gärtner (www.galerie-gaertner.de)

1907 baute François Bovis, Geigenbauer in Nizza, wieder einmal ein Violoncello; es befindet sich heute unter der Inventarnummer C.527 im dortigen Musée du Palais. Im selben Jahr, ebenfalls in Frankreich, brachte das Medienunternehmen Pathé Frères seinen Film „Premier Prix de Violoncelle“ in die europäischen Kinos. Hätte Bovis ihn gesehen, gut möglich, dass er seinen Beruf als Luthier aufgegeben hätte...

PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE ist das erste Werk der Filmgeschichte, in dem ein Violoncello die Hauptrolle spielt. Es befindet sich heute im Besitz von Lobster-Film, dem weltweit größten Privatarchiv für alte Filme, und wurde erst 2007 allgemein zugänglich durch die DVD der „Edition filmmuseum 18“, die den aparten Titel trägt „Crazy Cinématographe. Europäisches Jahrmarktkino 1896 -1916“.

Eine Fußnote der Mediengeschichte ist dieser Film, wie sich noch zeigen wird, keineswegs - im Unterschied zu dem Begriff „Cellograph“, der vermutlich nur notorische Musici an das Violoncello denken lässt, der aber schlicht an den Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Kunststoff Celluloid (als durchsichtigem Träger für fotografische Filme und im Anfangsstadium auch als Tonträgermaterial bei dem „Grammophon“ -Gründer Emil Berliner, vgl. weiter unten) erinnern wollte und eine Filmkamera bezeichnete, über den die „Photographische Rundschau“ (1899, S.25) mitteilte, deren Erfinder Herr Dunn wolle damit einen kompletten Boxkampf von 80 Minuten Dauer aufzeichnen. Im Vergleich zu diesem Cellograph-Projekt, von dem die Mediengeschichte nichts weiter weiß, nimmt sich PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE mit 55 Filmmetern oder umgerechnet 2895 Filmbildern sehr kurz aus, denn seine kinematographische Vorführung ergibt lediglich 2 Minuten 42 Sekunden - aber welches Kunstwerk liesse sich denn schon in metrischen Einheiten ermessen?

PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE wurde von Pathé Frères für den deutschen Filmmarkt angekündigt unter dem seltsamen Titel "Erster Violinistenpreis" (Der Komet, 1907, Nr. 1167) Der Begriff "Violinist" war damals genauso ungebräuchlich wie heute. Vielleicht hat man in der Berliner Niederlassung von Pathé bei Johann Heinrich Zedler nachgeschlagen, in dessen Universal - Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1731 -1754), der mit Abstand umfangreichsten Enzyklopädie im Europa des 18. Jahrhunderts, sich der Eintrag findet: „Violinista, ist Italienisch, und heist [sic] ein Baßgeiger.“ (Bd. 48, 853). Hier die Kurzbeschreibung des Films, der aus drei Kameraeinstellungen und vier Bildern (Bild 4 wie 2) besteht:

1. Introduzione. Allegro ma non troppo

Ein schmiedeeisernes, hohes Tor, großbürgerliche Welt. Ein junger Cellist mit wallendem Haar, flottem Schal und manierlichem Gehrock nähert sich von rechts, sein Cello (ohne Etui oder Koffer), mit der linken Hand beherzt am Hals gefasst. Er wedelt mit seinem Cellobogen, geht flotten Schrittes durch das Tor.

2. Strassenmusik. Vivace, poco a poco

Der Cellist geht nicht etwa hinein in ein Palais zum Kammerkonzert, sondern betritt - Auftritt von links - seine Bühne zwischen neobarocken Palästen à la Pariser Opéra Garnier. Staunend schaut er auf die historisierenden Prachtbauten und ihren menschenleeren Vorplatz (sie sind recht eigentlich nur ein gemalter Bühnenprospekt, wie er im Barockzeitalter als perspektivisch gestaffelte Kulisse modern wurde). Er stellt seinen Klappschemel auf, mitten auf der Strasse, setzt sich nieder und zieht mit großer Geste seinen Cellobogen an der Nase vorbei, als hielte er eine wohl duftende Zigarre in Händen. Auftakt für ein großes Meisterwerk. Den Kopf kühn zurückgeworfen, und schwungvoll beginnt er zu streichen, ergriffen von seiner hohen Kunst. Einen Stachel hat sein Cello nicht, er spielt also in einer Haltung, die gern den Barockcellisten zugeschrieben wird (was allerdings nicht zutreffend ist. Z.B. behilft sich der Mönch, den Tony Robert - Fleury (1837 -1912) gezeichnet hat (vgl. Abb.) mit einem Fußbänkchen. )

Den Daumen fest aufs Griffbrett geklemmt, dito die übrigen Finger der linken Hand, hebt unser Filmcellist zum Spiel an und beginnt zu streichen, hin her, hin her. Von rechts kommt prompt die Reaktion: Arme recken sich aus dem Fenster, demonstrativer Unmut. Wie bestellt kommt von links eine ältere Mamsell mit Schürze und schlägt den Cellospieler mit ihrem Strohbesen´- was diesen nicht weiter beeindruckt. Unverdrossen säbelt er weiter, hin her, hin her; seine musikalischen Parameter bestehen aus der Tonlänge eines ganzen Bogens und der unveränderlichen Tonhöhe, die sich aus seinem Würgegriff links ergibt. Nun regnet es - Gegenstände. Allerdings keine Geldstücke, sondern Hüte, Blätter, sogar ein Wäschekorb landen um ihn herum, der Cellist duckt sich - sägt aber weiter wie gehabt.

3. Presto. Im Munitionslager

Umschnitt auf ein geräumiges Treppenhaus, wohl situiertes Ambiente. Inventar aller Art liegt parat: die Munition für den Angriff auf den notorisch sägenden Cellisten. Hektisch reichen sich sechs und bald noch mehr Personen alle möglichen Objekte, bereit zum Abwurf auf den, so scheint es, Straßencellisten. Im Vordergrund links: eine Nähmaschine; im Vordergrund rechts: ein Grammophon und ein Hund.

4. Prestissimo. Grosse Finale

Die Attacke wird zusehends heftiger: Kissen, Geschirr, eine Matratze, Inventar aller Art prasselt auf den Cellisten nieder. Sogar ein Schrank, der ihn um Haaresbreite verfehlt. Am Cellowirbel hängt ein Körbchen, doch es kommt noch ärger: von links nähert sich ein Wasserschlauch und droht Cello samt Cellisten zu ersäufen. (Spätestens an dieser Stelle hätte sich der erwähnte Geigenbauer aus Nizza nach dem Sinn seiner Arbeit gefragt...) Unerwartete Wendung auf dem Kulminationspunkt des Chaos: ein kleines Mädchen kommt ins Bild und reicht dem tapfer ignoranten, selbstverliebten Künstler einen Blumenstrauß. Das Kind erreicht, was all der Angriffslust nicht gelang – der Cellist hört auf zu spielen, steht auf, und verlässt, nicht ohne ungewollten Purzelbaum, aber überschwänglich beglückt über die unerwartete Anerkennung, die Szene. Fin.

Absurda comica

PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE ist in seiner Komposition ein barocker Film, der direkt anzuknüpfen scheint an die seinerzeit beliebten und mitunter völlig absurden Komödien des 17. und 18. Jahrhunderts. Grobianische Derbheiten aller Art gehörten zum Kernbestandteil der Theaterunterhaltung, wie eine Regieanweisung aus dem sog. Schimpfspiel von Andreas Gryphius „Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz“(1654) illustriert: „Pickelhäring schläget Bullabutän in den Hals / Bullabutän schläget ihm hergegen die Wand umb den Kopf / sie kriegen einander bey den Haaren und zerren sich hurtig auff dem Schauplatz herumb, worüber die Wand schier gantz in Stücken gehet.“

Einer solchen beherzt improvisierenden, einfachen Spielfreude sind sowohl das regelorientierte bürgerliche Theater als auch die an der Etablierung von Normen orientierten Musikwissenschaft des 19. Jahrhunderts strikt entgegen getreten. Das Wort „barock“ schien in dieser Epoche gleichbedeutend mit einer ästhetischen Zumutung und wurde seinerzeit mit „bizarr“ (Grimms Deutsches Wörterbuch 1838ff.) oder „verworren" übersetzt, auch mit "überspannt", gar "gewaltsam" "durch anspruchsvolle Originalitätssucht" (Dommer/Koch: Musicalisches Lexicon, 1865). PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE spielt all diese Attribute aus und liest sich vor diesem kulturhistorischen Hintergrund wie eine deftige Parodie auf das ach so wohl regulierte Bildungsbürgertum. Wenige Jahre später hat Charlie Chaplin diese kleine Attacke auf die sog. Hochkultur erneut in Szene gesetzt. In A NIGHT IN THE SHOW (1915) nähert sich der „kleine Mann“ im ramponierten Frack auf offener Bühne einem Opernsänger und schlägt ihm eine Torte ins Gesicht – unter dem Beifall des bürgerlichen Publikums im Parkett. Gryphius lässt grüssen!

Historische Aufführungspraxis


Wie die Musik der Barockzeit, so wurden auch die Filme des sog. frühen Kinos lange Zeit mit Missachtung oder jedenfalls solider Unkenntnis gestraft. Die Filmgeschichtsschreibung setzt in der Regel erst nach dem Ersten Weltkrieg ein, so als ob die es die erste Generation seit 1895 gar nicht gegeben hätte, oder bestenfalls als technische Fingerübung. Diese Betrachtungs - weise hat sich erst in den letzten zwei Jahrzehnten geändert, so dass wir in der Rekonstruktion der historischen Aufführungs - praxis, was das Kino anbelangt, erst am Anfang stehen. Die Musikforschung ist hier, nicht zuletzt dank Gerhart Darmstadt, ein ganzes Stück weiter. Von seinem gründlichen Quellen - studium könnte die Filmgeschichtsschreibung eine Menge lernen.

Würde man nämlich in die Quellen gehen, soweit sie überhaupt einer Überlieferung für wert befunden wurden, so könnte man z.B. sehen, dass Kino anno 1907 eine sehr turbulente Veranstaltung war, nicht annähernd zu vergleichen mit dem klassischen, braven Ritual von Lichtspieltheatern, wie wir es von den 1920er Jahren im Prinzip bis heute kennen. Zum einen bestanden die Programmangebote nämlich aus lauter Kurzfilmen, sog. Nummernprogrammen, zum anderen wurde „der“ Kino, wie man damals sagte, erst um 1907 ein eigenständiger Aufführungsort, allerdings zunächst mehrheitlich in Form sog. Ladenkinos für Arbeiter und kleine Angestellte, die, mit Bierausschank und Kneipenatmosphäre, ausschließlich das neue Medium Film anboten; daneben gab weiterhin die großstädtischen Varietés, die ihrem bourgeoisen Publikum eine Mischung aus Live -Artistik, Akrobatik und Filmnummern offerierten.

„Die Vorführung humoristischer Szenen“, schrieb die Fachzeitung „Der Kinematograph“ am 25.12.1907, „wird von den Besuchern der kinematographischen Theater stets mit Beifall aufgenommen, und es zeigt sich in dieser Hinsicht eine merkwürdige Übereinstimmung der vornehmen und gebildeten Kreise mit dem schlichten Volke“. Dieser allseitige Beifall verdankt sich, wie auch schon in der barocken Komödie und den köstlichen Opern Cavallis, der Möglichkeit, das Dargebotene auf zweierlei Weise verstehen zu können. Der Betrachter kann entweder auf der unmittelbaren Ebene der Handlung verbleiben oder nach symbolischen Zeichen suchen, die ihm eine zusätzliche Freude des Wieder -Erkennens bereiten.

PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE funktioniert genau auf diesen zwei Ebenen. Zum einen erlaubt er die einfache Freude an dem schlicht konstruierten Witz, Straßenmusikant wird mit Inventar bombardiert und gibt erst Ruhe, als er Blumen erntet (womit zusätzlich zur Schadenfreude noch die moralische Botschaft angeboten wäre, dass Anerkennung vor Handgreiflichkeit geht). Zum anderen bietet der Film, und das macht ihn recht eigentlich so interessant, auch einem wissenderen Publikum eine Ebene des Verständnisses an. Es könnte sich z.B. an Friedrich Schillers Kabale und Liebe (Mannheim, 1784) erinnern, in dem der Musikus „Miller, der Stadtmusikant, oder wie man ihn an einigen Orten nennt, Kunstpfeifer“ seiner Frau droht „wilst das violonzello am hirnkasten wissen?“ (1. Akt, 2. Szene) – auch nicht gerade ein sanfter Gebrauch des Violoncellos. Da wäre aber auch die Figur des Straßenmusikanten, über dessen Geschichte wir in der wissenschaftlichen Literatur leider nicht zureichend informiert werden.

Der Straßenmusikant

Straßenmusikanten waren traditionsgemäß männlichen Geschlechts. Das galt erst recht für Spieler größerer Musikinstrumente. Und das Violoncello galt im 19. Jahrhundert ohnehin als „unweiblich“. So schrieb etwa die „Wiener Zeitung“ am 26. Nov. 1859: „Aber ein Mädchen, sei es auch noch so anmuthig, welches die kleine Baßgeige streicht? Das ist offenbar eine andere Frage. Man kann sagen: ja die Geige, das ist ein ungeberdiges Kind, welches, in Mädchenarme genommen, zutraulich wird und die süßesten Laute von sich gibt; das Violoncell aber, dieser halbgewachsene Mann, der fast auf eigenen Füßen steht, diesen bändigen zwei Mädchenhände nicht, der will eine männliche Faust fühlen.“
Der männliche Protagonist in PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE agiert offenkundig als Straßenmusikant, in der jahrhundertealten Tradition von fahrenden Spielleuten. Nicht von ungefähr wurde ein Wandermusikant, wie auf dem Gemälde von Carl Spitzweg um 1860, sozial oft als „Bettelmusikant“ eingestuft. Und hat nicht schon Michael Praetorius 1619 die Drehleier als Bettler - und Bauerninstrument bezeichnet?! Im 17. Jahrhundert, das gilt als gesicherte Erkenntnis der Ethnographie, bildeten Leiermänner zusammen mit Quacksalbern, Schatzgräbern und Bärenführern – eine „Landplage“.
Im osteuropäischen Raum finden sich, das mag Zufall der Quellenfunde sein oder System haben, viele Abbildungen von Violoncellospielern im öffentlichen Raum, zumeist jüdische Kapellen und sog. Zigeunerbands. Violoncelli finden wir etwa auf einem oberungarischen Ölbild aus dem 18. Jahrhundert (Gemerské Muzeum, Rimavská Sobota, Slowakei, HU 1072) oder auf dem Gemälde „Polnische Hochzeitsmusikanten“ (um 1840, Nationalmusem Krakau) von Wincenty Smokowski. Und János Jankó fotografierte z.B. 1895 jüdische Musikanten in Ostungarn (Ethnographisches Museum Budapest F508), wobei das Violoncello mit drei Saiten auskam.

Der Protagonist in PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE tritt rein formell gesehen in der Rolle des klassischen Spielmanns oder Wander - bzw. Straßenmusikanten auf, schon weil er einfach „dahergelaufen“ kommt zu Beginn des Films. Auch teilt er das Schicksal des „Leiermanns“ aus Schuberts „Winterreise“ , für den ja auch galt: „Keiner mag ihn hören“. Doch im äußeren Erscheinungsbild und Habitus entspricht der Filmcellist nicht im mindesten der angedeuteten Typologie. Er ist bourgeois - städtisch gekleidet, wirkt jugendlich -frisch und wohl genährt und im Gestus sehr selbstverliebt in seinen galanten Auftritt. .Auf wirkliche Empathie ist die Filmszene also nicht angelegt, ein Mit -Fühlen, wie es Theodor Kramer noch 1945 so herzergreifend evoziert mit den Gedichtzeilen

„Leer, verfilzt ist meine Tasche /
und durchlöchert ist mein Hut; /
daß ich leb, das Herz aus Asche, /
macht: aus Branntwein ist mein Blut.


Darf nicht ruhn, muß Straßen weiter; /
denn bald bin ich nicht mehr da, /
und es spielt die Stadt kein Zweiter /
so die Ziehharmonika.“

(FAZ vom 22.10.2011)

Im Unterschied zu Leiermännern und Ziehharmonikaspielern tritt der Cellist in den Abbildungen nie solo auf, jedenfalls nicht als öffentlicher Unterhalter (häufig hingegen in Karikaturen des 18. Jahrhunderts, wie einige Abbildungen in diesem Band belegen). Eine typische Szenerie für den Auftritt des Cellos im Rahmen der Strassenmusik hat Theodor Hosemann 1838 festgehalten in seinem Stahlstich „Drei herumziehende Musikanten“(vgl. wikimedia commons).

Um 1900 scheint das Violoncello selbst in diesem Ensemble - Kontext eine Rarität gewesen zu sein, jedenfalls wurde das Instrument nun nicht mehr der populären Unterhaltung zugerechnet. Streichinstrumente wie das Violoncello seien, schrieb Meyers Großes Konversations -Lexikon 1909, (Band 19.114) "heute allein in der Kunstmusik gebräuchlich". Insofern muss allein schon das bloße Auftreten eines Cellospielers im öffentlichen Raum auf die zeitgenössischen Filmzuschauer komisch gewirkt haben. Auch erreicht das Instrument ja nicht annähernd die durchdringende Phonstärke eines Blasinstrumentes oder der populären Drehorgel´- womit sich die in unserem Film inszenierte Aufregung der Anrainer über den akustischen Störenfried erst recht als maßlose und darin komische Übertreibung erweist.

Dass am Instrumentenhals ein Gegenstand hängen bleibt, war hingegen ein spaßiges Motivangebot, erst recht natürlich für diejenigen, welche die Kreide -Lithographie der „Heidelberger Merkwürdigkeiten“ von 1827 (vgl. Inv. -Nr. HB 29876 Kaps 1281a, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg) gekannt haben sollten, auch wenn darauf „nur“ ein Kontrabass als Mützenablage verwendet wurde.

Phono

Etwas unverständlich für heutige Zuschauer ist das dritte Bild in PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE, in dem trotz des Tohuwabohus der Handlung unübersehbar zwei Gegenstände wie ein Fels in der Brandung wirken: links eine Nähmaschine, rechts ein Grammophon – beides zur Jahrhundertwende neuartige industrielle Produkte, die auf den Massen -Konsumgütermarkt setzten. Gut möglich, dass der Filmvorführer an dieser Stelle erst einmal den Filmlauf angehalten und diese merkwürdige Szenerie als Standbild projiziert und anhand der aktuellen Entwicklungen erläutert hat (ein in der historischen Aufführungspraxis der Anfangsjahre des Kinos gängiges Verfahren), etwa in der Art: 1907 hat die deutsche Nähmaschinenproduktion die amerikanische Konkurrenz erstmals überflügelt, und in bürgerlichen Kreisen kursiert seit geraumer Zeit „die Empfehlung, den Töchtern statt des Klavierspielens das Nähmaschinennähen beizubringen“ (Karin Hausen: „Technischer Fortschritt und Frauenarbeit im 19. Jahrhundert“, Geschichte und Gesellschaft 1978, 158). Just zur selben Zeit erreichen die ersten akustischen Aufzeichnungs - medien der Menschheitsgeschichte schwindelerregende Absatz - quoten. Der Traum von beliebig wiederholbaren, die Aufführungszeit entgrenzenden Musikdarbietungen war in Gestalt technischer Apparaturen Realität geworden. Ein Traum, den Charles Cros, französischer Dichter und selbst Erfinder eines technischen Vorläufers („Paläophon“ genannt), 1880 mit den Zeilen umschrieb:

Comme les traits dans les camées /
J`ai voulu que les voix aimées /
Soient un bien qu`on ne garde à jamais /
Et puissent répéter le reve /
Musical de l`heure trop brève /
Le temps veut fuir, je le soumets.


[ Ich wollte, dass die geliebten Stimmen, wie auf den Bildnissen in Edelstein, für immer bewahrt blieben, und dass man den flüchtigen musikalischen Traum wiederholen könnte. Die Zeit will entfliehen, ich halte sie fest. ]

Als erste Firma weltweit hatte Thomas A. Edison den Phonographen 1878 patentieren lassen. 1907 unterhielt dessen Unternehmen bereits ein eigenes „Edison Symphony orchestra“, das die Walzen mit marktgängiger Musik bespielte. Im selben Jahr führte der Edison -Verkaufskatalog auch schon die Rubrik „Violoncello Solos“ auf, mit sieben Aufnahmen „by Hans Kronold“ und mit „Piano Accompaniment“: Nr. „3177 Ave Maria, Gounod / 8940 Evening Star from „Tannhäuser“, Wagner /9080 Melody in F., Rubinstein / 8965 Schubert`s Serenade / 9366 Simple Confession (Simple Aveu), Thome / 9413 The Swan, Saint - Saens / 9149 Traumerei, Schumann“.

1907 wurde der neue Markt für die technisch basierte Musikrezeption in Europa jedoch schon von der „Grammophon“ beherrscht; das Unternehmen hatte eine Zentrale in England und seit 1898 eine Tochtergesellschaft, die „Deutsche Grammophon“ in Hannover, wo auch das erste Schallplattenwerk der Welt entstand. Die „Grammophon“ setzte nämlich nicht auf Walzen, wie Edison, sondern auch Schellackplatten, die Firmengründer Emil Berliner als „Schallplatten“ bezeichnete und die eine deutlich bessere Klangqualität lieferten. 1907 bekam die sehr erfolgreiche „Grammophon“ unerwartet starke Konkurrenz aus Frankreich,´- ausgerechnet durch die Firma Pathé, den Produzenten des Films PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE!

His Masters Voice

Pathé unterhielt, wie Edison, ein Aufnahmestudio und ein eigenes Orchester von 80 Mann (seit 1905), und hatte, wie Edison, bis dato auf die Walzentechnik gesetzt. 1907 schwenkte das Unternehmen auf die Plattentechnik um (was Edison erst 1911 tat) und wurde damit zum direkten Konkurrenten der Firma „Grammophon“. Der Zeitpunkt war keineswegs zufällig gewählt, denn das Filmgenre der „Tonbilder“ – also Filmvorführungen mit Grammophon -Begleitung – hatte um 1907 seinen Höhepunkt in der Verbreitung. Kinos, die auf sich hielten, führten diese quasi -live Aufführungen, in der Regel von Sängern wie etwa Enrico Caruso, vor allem in Großstädten vor.
Den Wiedergabeapparat nannte Pathé passenderweise „Pathéphone“ (vgl. dazu die sehr informative Phonoseite www.hervedavid.fr/francais/phono/Pathe.htm). Wenn auch keine Indizien nachweisbar sind, dass PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE als Werbefilm eingesetzt wurde, so ist doch von der Bildkonstellation her deutlich, dass der Film eine Attacke gegen den deutsch -britischen Konkurrenten symbolisiert. Warum sonst hätte man im Vordergrund des Filmbildes ausgerechnet einen Hund platzieren sollen? Dieser sieht, und das dürfte wohl kaum unabsichtlich passiert sein, dem Hund namens „Nipper“ ziemlich ähnlich´- verewigt auf einem Gemälde des Briten Francis James Barraud, der sein Hunde -Bild 1899 an die „Grammophon“ -Gesellschaft verkauft hatte, die ihrerseits damit ein legendäres Plattenlabel gründete. (Für die „His Master`s voice / Die Stimme seines Herrn“ hat u.a. Pablo Casals 1925 „Le Cygne“ von Saint -Saens eingespielt.)

Zum Start seines neuen Wiedergabegerätes 1907 hätte Pathé keine passendere Ikonographie wählen können – schleicht sich der Film -Hund in PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE doch gequält von dannen, wohl weil er den Cellisten draussen via Grammophonapparat drinnen erleiden muss...

Werbefilm oder nicht, nachweislich hatte Pathé mit seinem Gegenmodell zur „Grammophon“ eminenten Erfolg und stieg vor dem 1. Weltkrieg mit dem „Pathéphone“ zur Musikindustrie Nummer Eins auf dem europäischen Kontinent auf. Wer mag, kann sich unter www.archeophone.org die mittlerweile konvertierten Scheiben anhören.

PREMIER PRIX DE VIOLONCELLE ist ein kurzer, amüsanter Streifen mit einem jugendlich -dynamischen Cellisten, der sich für mädchenhaften Charme empfänglich erweist, leider aber auf seinem Instrument nicht spielen kann. Und wir können ihn nicht hören. Die Filme anno 1907 hatten noch keine Tonspur, liefen also stumm und wurden während der Vorführung live begleitet - vermutlich aber nie mit einem Violoncello solo. Für die großen Kinosäle gab es Orchestrien von Welte aus Freiburg und, ab 1914, spezielle Kinoorgeln von Welte und Wurlitzer, sowie ab 1918 das „UFA Sinfonieorchester“, das erste deutsche Filmorchester. Für kleinere Kinosäle hat man, aus Kostengründen, kleinere Ensembles engagiert, mitunter auch nur einen Mann am Klavier. Insofern erweist sich auch die eigens für die hier zitierte DVD - Edition filmmuseum - aufgenommene Filmmusik als Sparversion: Günter A. Buchwald hat, in Ermangelung von Zeit und Cellokünsten, den 100 Jahre alten Film ausgerechnet – und unpassend genug - mit Klaviermusik unterlegt.

Annette Deeken