Villa Rustica

Abb. 1: Pars urbana der Axialhofanlage von Borg (Saarland)

Die Villa rustica als Träger der Romanisierung und Akkulturation in den römischen Nordwestprovinzen

Bearbeiter: Dr. Horst Seilheimer

Forschungsprojekt gefördert von der Gerda Henkel-Stiftung


Im Zuge der römischen Okkupation wurden die Nordwestprovinzen von einem nahezu flächendeckenden System von Villae rusticae überzogen. Diese bildeten die Träger der hier neu etablierten römischen Landwirtschaft, die in der Regel auf die Erzielung einer Überschussproduktion ausgerichtet war und zunächst primär die Versorgung des Militärs, danach aber auch die der stetig wachsenden Bevölkerung in den städtischen Agglomerationen gewährleisten sollte. Charakteristisch ist eine zweckgebundene Organisationsstruktur, bei der innerhalb einer großflächig umfriedeten Fläche jeweils ein Bereich für das Hauptwohngebäude (pars urbana) und die Wirtschaftsfläche (pars rustica) mit einer wechselnden Anzahl von Nebengebäuden bestimmt war. Letztere konnten sowohl als Speicher oder Scheunen, Remisen, Werkstätten aber auch kombiniert als weitere Wohnbauten eingerichtet sein. Grundsätzlich lassen sich zwei Typen in der Ausrichtung der Villenbauten unterscheiden: Die meist deutlich kleineren Streuhof- und die ungleich größeren Axialhofanlagen. Während erstere außerdem mit einem deutlich geringeren architektonischen Aufwand errichtet wurden, erreichen die Axialhofvillen vor allem in ihrer letzten Ausbauphase teilweise riesige Dimensionen. Während die Gebäude auf den Streuhofanlagen zwar ebenfalls ein entsprechend den verschiedenen landwirtschaftlichen Tätigkeiten organisiertes, aber deutlich weniger streng axialisiertes Konglomerat bilden, sind die Axialhofanlagen in der Regel streng orthogonalisiert. Dies äußert sich in einer klaren Trennung – oft durch einen eigenen Mauerzug – von pars urbana und pars rustica. Während das Hauptgebäude meist nach mehreren Bauphasen zu einer palastartigen Villa urbana erweitert wurde, stehen sich auf dem Wirtschaftshof die Nebengebäude der Axialhofvillen meist streng symmetrisch gegenüber.
Bauliche Vorgänger hinsichtlich der Struktur der „Villa rustica“, besonders im Hinblick auf die zweckgebundene Organisationsform von Haupt- und Nebengebäuden, sind überzeugend auf einheimischer eisenzeitlicher Grundlage zu finden. Hierbei sind möglicherweise vor allem die keltischen „fermes indigénes“ Frankreichs, aber auch die im gleichen Gebiet und bis nach Süddeutschland verbreiteten Viereckschanzen als einheimische Vorbilder anzusprechen. Besonders die „fermes indigènes“ drücken bereits in der ausgehenden Latènezeit architektonisch ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen „Patron“ und „Klientel“ aus, wie die späteren Villen zwischen Großgrundbesitzern und Pächtern. Gegenüber dieser althergebrachten Baugruppierung des Betriebshofes scheint sich der römische Anteil wohl vor allem auf die Architektur im Allgemeinen und neue Baumaterialien und –methoden zu erstrecken. Dessen ungeachtet bleiben traditionelle Bauformen nach wie vor auch in römischer Zeit in Verwendung. Darüber hinaus scheint sich ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Axialhofvillen und den in der Nähe liegenden Villae rusticae normalen Zuschnitts, die zu den Streuhofanlagen gehörten, anzudeuten. Offensichtlich drücken sich hier Pacht- und Klientelverhältnisse aus, die als Substrat zwischen einheimischer und römischer Tradition gelten können. Allerdings richtet sich die wirtschaftliche Ausrichtung sowohl der Streu- als auch Axialhofanlagen, deren Unterscheidung demnach wohl eher eine architektonische und organisatorische als eine ökonomische ist, nach den geophysikalischen Voraussetzungen des Umlandes, aber auch nach Bedarf und Absatzmarkt. Dementsprechend lassen sich unterschiedliche Präferenzen  bestimmter Wirtschaftsformen hinsichtlich des Anbaus, der Viehzucht oder eines eher stärker zum Handwerk hin tendierenden Betriebshofes unterscheiden. Keltische Wirtschaftsformen bezüglich bereits vorgefundener Anbausorten werden von den Römern, neben der Einführung weiterer Anbaufrüchte, vor allem durch verstärkte Arbeitsorganisation und eine allgemeine Intensivierung des Anbaus quantitativ gesteigert. Auch die Viehzucht wird vor allem durch Mastfütterung und offensichtlich weniger durch Zuchterfolge intensiviert. Entsprechend lässt sich in unterschiedlichen Gebieten eine anteilsmäßige Bevorzugung der Landwirtschaft – mit wechselnden Anbausorten – oder der Viehzucht (v. a. in Gebieten mit geringerem Bodenertrag, also besonders im Norden), aber auch auf handwerkliche Betriebsformen feststellen.
Letztere scheint vor allem ein Phänomen der Spätantike zu sein, was mit ungünstigeren Voraussetzungen für die Landwirtschaft durch die sich nun stetig steigernden Germanenübergriffe zusammenhängen könnte. Außerdem mit innen- und außenpolitischen Unruhen, aber auch mit einer prägnanten Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese sind von einer sich ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts nach Chr. zunehmend deutlicher abzeichnenden Klimaveränderung hin zu einer kühleren, feuchteren Witterung geprägt. Außerdem bewirkte die intensiv betriebene römische Landwirtschaft eine fortschreitende Entwaldung weiter Gebiete, die zu einer ausgeprägten Bodenerosion der fruchtbaren Gebiete führte. Das Villa rustica-System reagierte hierauf offensichtlich mit einer stärkeren verwaltungstechnischen Zentralisierung, die sich ab konstantinischer Zeit in einer rechtlich verschärften Form des Kolonats äußerte, die zu einer direkten Abhängigkeit der Pächter gegenüber den Latifundienbesitzern führte. Sichtbarer Ausdruck dieser neuen Gegebenheiten ist der Ausbau der Axialhofvillen als Distributionszentren für die von den abhängigen Pächtern erwirtschafteten landwirtschaftlichen Produkte. Außerdem wohnten weitere Arbeiterfamilien direkt auf dem Hof dieser Anlagen, wobei es sich bei diesen kleineren Häusern um kombinierte Wohn- und Wirtschaftseinheiten handelt. Deren Schollenbindung sollte offensichtlich ebenso wie diejenige der umgebenden Landpächter auch weiterhin die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern sicherstellen.

Abb. 2: Plan der Streuhofanlage von Hechingen-Stein (Baden-Württemberg)