Editorial

Lange Zeit wurde die Genese des kinematographischen Schauspielstils in der Frühzeit des Films als allmähliche Loslösung von den Konventionen der Bühnendarstellung angesehen. In dieser teleologischen Sichtweise emanzipiert sich das Spiel vor der Kamera von den Einflüssen des Theaters, indem sich eine eigene, den spezifischen Eigenschaften des Mediums gemäße Darstellungsweise herausbildet. Gleichzeitig erscheint das Spiel im frühen Film als primitiv und 'unfilmisch'. Mit anderen Worten: Der Blick auf die Schauspieler der ersten beiden Dekaden der Filmgeschichte ist von denselben Vorurteilen geprägt wie die traditionelle Auffassung von den Anfängen des Kinos überhaupt.

Im Zuge der allgemeinen Erkundung und historischen Neubewertung des Kinos vor 1920 ist in den vergangenen Jahren auch die Arbeit der frühen Filmschauspieler erforscht worden. Eine erste Übersicht hierzu bot die 1995 von Yuri Tsivian mit Unterstützung der UNESCO und der Soros Foundation in Riga organisierte Tagung "Acting for Silents: Styles, Schools, Stars". Statt mit der schematischen Entgegensetzung von Theater und Kino zu operieren, geht es den neueren Untersuchungen darum, das Spiel der Frühzeit in dem ihm eigentümlichen historischen, sozialen, kulturellen und ästhetischen Kontext zu erfassen.

Die vorliegende Ausgabe von KINtop will dem deutschsprachigen Publikum einige Aspekte dieser internationalen Diskussion vorstellen. Frank Kessler betrachtet die konventionelle Gestik und Mimik des frühen Films vor dem Hintergrund der jahrhundertealten Tradition von Theorien zur Lesbarkeit des Körperausdrucks. Der Beitrag von Ben Brewster und Lea Jacobs analysiert die Bedeutung von Posen in Bühnendarstellung und Lichtspiel im Spannungsfeld zeitgenössischer Theater- und Filmpraxis einerseits und sich wandelnder ästhetischer Vorschriften und Urteilen andererseits. Aus den Beispielen, die sie analysieren, geht hervor, daß die schematisch-abstrakte Gegenüberstellung von 'theatralischer' und 'filmischer' Spielweise den komplexen Zusammenhängen von einander überlagernden Schauspielstilen in keiner Weise gerecht werden kann. Das ergibt sich auch aus den Überlegungen Ivo Bloms zum Darstellungsstil der italienischen Diva Lyda Borelli, deren exaltiertes Spiel vielfältige Beziehungen zu ästhetischen und kulturellen Zeitphänomenen unterhält. Monica Dall'Asta untersucht die Muskelmänner, das männliche Pendant der italienischen Filmdiven. Den Publikumserfolg des Lastenträgers Bartolomeo Pagano alias Maciste analysiert die Autorin im Rahmen des Idealbilds vom männlichen Körper, das bereits deutlich vor der Jahrhundertwende eine Dynamisierung erfährt. Nationale Besonderheiten des Lichtspiels lassen sich mitunter schlicht auf Vorschriften des Gesetzgebers zurückführen. So erläutert schließlich Joseph Garncarz an den Regelungen des deutschen Kinderschutzgesetzes, warum das Stummfilmkino keine deutschen Kinderstars hervorgebracht hat.

Die Arbeitswelt der Schauspieler erhellen drei zeitgenössische Texte, die hier erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen. Die Theatergöttin Sarah Bernhardt räsoniert über das Publikum und ihre eigenen Erfahrungen vor der Kamera. Yvonne Harnold, eine Filmdarstellerin, deren Identität nicht geklärt ist, gibt Einblick in den Alltag der frühen Aufnahmeateliers. Wie sehr sich die Filmhersteller bemühten, das Verhalten der Darsteller vor der Kamera und am Drehort zu reglementieren und zu kontrollieren, ist den Anweisungen für Schauspieler zu entnehmen, welche die Selig Polyscope Company im Jahr 1910 erläßt. Den historischen Stellenwert dieses Dokuments erschließt Livio Belloï.

 Außerhalb des Schwerpunkts setzt Stephen Bottomore seinen Beitrag über die Filmaufnahmen des Delhi Durbar 1902/03 (vgl. KINtop 4) fort mit einem Bericht über das bis dato aufwendigste Nachrichtenereignis der Kinematographie, den Delhi Durbar von 1911. Unnmittelbar nach Beendigung der Zeremonien begann ein Wettlauf um Zeit und Geld: Jede der Produktionsfirmen wollte ihre Aufnahmen als erste auf Londoner Leinwände projizieren. Erregte Reaktionen löste das angeblich ungehörige Verhalten des Gaekwar von Baroda gegenüber dem englischen Königspaar aus - als vermeintlich eindeutige Beweismittel druckten englische Zeitungen Photogramme von Filmaufnahmen ab. Aus Platzgründen konnte dieser für KINtop geschriebene Artikel im Aktualitäten-Schwerpunkt der vorherigen Ausgabe nicht erscheinen. Die englische Version wurde vorab vom Historical Journal of Film, Radio and Television veröffentlicht.

In Japan wurden bewegte Projektionsbilder schon lange vor Einführung des Films gezeigt. Hiroshi Komatsu berichtet über diese utsushi-e genannten Aufführungen, die von mehreren Projektionskünstlern mit beweglichen Laternen durchgeführt wurden.

Bereits in früheren Ausgaben hat KINtop verschiedene Einrichtungen mit ihrer archivarischen und wissenschaftlichen Arbeit im Bereich des frühen Kinos vorgestellt. Diesmal berichtet Martin Humphries von den Aktivitäten des Cinema Museum in London, das ohne öffentliche Förderung Kinogeschichte in all ihren verschiedenen Facetten sammelt und dokumentiert. Für die Restaurierung von Filmen des englischen Herstellers Mitchell & Kenyon aus den Jahren zwischen 1900 und 1906 erhielt das Cinema Museum den Haghe Film-Preis und konnte einen Teil der Filme auf den Giornate del Cinema Muto 1997 in Pordenone präsentieren. Der Beitrag von Sabine Lenk stellt wissenschaftliche Publikationen vor allem aus französischen und niederländischen Archiven vor und plädiert für eine systematische Politik der Wissensverbreitung in und durch solche Institutionen, die so zu unentbehrlichen Partnern der Forschung werden.

Nicht nur die Bildinformation auf dem Nitromaterial der Filme, sondern auch die auf Papier überlieferten Primärquellen zur frühen Kinematographie sind erst nach ihrer Sicherung für die Forschung allgemein zugänglich. Mittlerweile liegen nahezu alle deutschen Branchenblätter der Frühzeit auf Mikrofilm vor. Als Service bietet dieser Band deshalb, neben Rezensionen neuerer Veröffentlichungen, Herbert Biretts Standortverzeichnis früher deutscher Filmzeitschriften (vgl. KINtop 1, inzwischen vergriffen) in einer aktualisierten Neufassung.

 Die nächste Ausgabe von KINtop, die im Sommer 1999 erscheint, wird dem Schwerpunkt "Film und Projektionskunst" gewidmet sein.

Für die Hilfe beim Zustandekommen dieser Ausgabe danken wir der Bibliothèque de l'Arsenal (Paris), Laurent Billia und der Bibliothèque du Film (BiFi, Paris) sowie Francesco Bobo, Victoria Duckett, Mervyn Heard, Dominique Païni, Deac Rossell, Brigitte Schulze, Laurent Véray. Der besondere Dank von Redaktion und Verlag gilt dem Präsidenten der Universität Trier, dessen Unterstützung die Drucklegung gesichert hat. Schließlich möchten wir den Autorinnen und Autoren dafür danken, daß sie ihre Beiträge unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben.

Zuguterletzt freuen sich Redaktion und Verlag, unseren Lesern mitteilen zu können, daß KINtop 6, das dem Thema Aktualitäten gewidmet ist, den mit 10.000 Francs dotierten Prix Jean Mitry des Institut Jean Vigo in Perpignan für die beste filmhistorische Publikation in der Kategorie Periodika erhalten hat.

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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