Editorial

Der frühe Film wird in vielen Filmgeschichten eher stiefmütterlich behandelt. Man spricht vom "primitive cinema", von den "Flegeljahren" des Kinos, dessen "erste Gehversuche" nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Die Regisseure der Frühzeit sind bestenfalls "Wegbereiter" und "Vorläufer", meist werden nur Lumière, Méliès, Porter und Griffith ausführlicher behandelt. Ihnen wird dann auch die "Erfindung" all dessen zugeschrieben, was erst später, systematisch und bewußt verwendet, die eigentliche "Filmkunst" ausmacht.

Doch seit 1978 hat sich diese vereinfachende Sicht auf die Anfänge des Kinos stark gewandelt. Auf dem Kongreß des internationalen Verbands der Filmarchive (FIAF) in Brighton beschäftigten sich Archivare und Filmwissenschaftler mit der Produktion der Jahre 1900-1906, Filme, die seit ungefähr einem Dreivierteljahrhundert kaum mehr jemand gesehen hatte. Die Wirkung dieser Wiederbegegnung war enorm: Den Filmhistorikern eröffnete sich ein ganzer Kontinent, den es neu zu vermessen und zu kartographieren galt, den Archivaren wurde bewußt, daß hier eine ungeheure Menge an Filmen darauf wartete, erfaßt, identifiziert und gesichert zu werden, denn durch den Zerfall des Nitromaterials war schon einiges unwiederbringlich verloren gegangen.

Seither hat die Erforschung des frühen Films große Fortschritte gemacht. Eine Reihe wichtiger Untersuchungen, vor allem aus Nordamerika, Großbritannien, Italien und Frankreich, haben unser Bild von der Frühzeit des Kinos nachhaltig verändert. Viele Archive sichern nun systematisch ihre Bestände und eine Anzahl bereits verloren geglaubter Filme konnte sogar wiedergefunden werden. Festivals wie die inzwischen zu einer Institution gewordenen Giornate del cinema muto in Pordenone präsentieren ihre Retrospektiven einem stets wachsenden Fachpublikum.

Darüber hinaus wurde das frühe Kino zu einer Begegnungsstätte von Filmgeschichte und Filmtheorie. Da es nun nicht mehr möglich war, die Anfänge des Mediums als eine primitive Vorform des späteren "klassischen" Kinos zu sehen, benötigten die Historiker neue theoretische Impulse, um die Besonderheiten dieser Filme erfassen zu können. Andererseits führte das verstärkte Interesse an der Frühzeit dazu, daß in der Filmtheorie die Historizität des Gegenstandes deutlicher wahrgenommen wurde. Einen Film 1895, 1903, 1913 oder 1919 sehen, bedeutete jeweils etwas ganz anderes. Gerade an diesem Punkt läßt sich aufzeigen, daß Filmgeschichte nicht allein eine Geschichte der Filme sein darf, sondern sich auch mit der Institution Kino in ihren verschiedenen historischen Ausprägungen auseinanderzusetzen hat.

Schließlich war auch die Tatsache, daß die "Wiederentdeckung" der Frühzeit aus Anlaß einer internationalen Tagung stattfand, von großer Bedeutung für die daran anschließende Forschung. Der ständige Austausch zwischen Wissenschaftlern, Archivaren, Sammlern und Museumsleuten verschiedener Länder ist längst zu deren eigentlichem Motor geworden. Die Kongresse der internationalen Vereinigung DOMITOR, die Giornate in Pordenone, Ciné-Mémoire in Paris, das Festival von Bologna, Retrospektiven in den Filmmuseen haben dieser Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg einen sehr lebendigen institutionellen Rahmen gegeben.

Vieles von diesem Geschehen wird in Deutschland nur am Rande wahrgenommen. Zwar nehmen an den erwähnten Veranstaltungen inzwischen immer mehr deutsche Forscher teil, die breitere (Fach-)Öffentlichkeit jedoch scheint nur unzureichend über diese vielfältigen Aktivitäten informiert. KINTOP soll zu einem Forum werden, das regelmäßig über die Forschung und die Diskussionen im Bereich des frühen Kinos berichtet, das wichtige ausländische Artikel in deutscher Übersetzung veröffentlicht, deutschen Forschern Gelegenheit gibt, ihre Arbeit zu präsentieren und das immer wieder auch englisch- oder französischsprachige Originalbeiträge publiziert.

Jede Ausgabe von KINTOP wird ein Schwerpunktthema haben. Daß für den vorliegenden Band die Wahl auf "Kino in Deutschland vor 1918" fiel, erklärt sich nicht nur daraus, daß die Idee zu KINTOP im Anschluß an die dem deutschen Kino gewidmete Retrospektive in Pordenone 1990 Gestalt annahm. Denn was einleitend zum frühen Film im allgemeinen gesagt wurde, gilt insbesondere für Deutschland. Obwohl auf manchen Gebieten sehr viel mehr getan wurde als in anderen Ländern (es gibt nirgends so viele gut dokumentierte Arbeiten, so viele interessante Textsammlungen zu zeitgenössischen Äußerungen über und intellektuelle Debatten rund um das Kino der Kaiserzeit; auch die lokale Kinogeschichtsschreibung hat hierzulande schon eine Reihe wichtiger Untersuchungen hervorgebracht), sind andere Bereich nahezu unerforscht. Das gilt vor allem für die deutschen Filme jener Jahre und ihren Stellenwert im internationalen Vergleich. Hierzu entwickeln Thomas Elsaesser und Eric de Kuyper sehr unterschiedliche Gedanken, in denen auch Fragen der Filmgeschichtsschreibung eine wichtige Rolle spielen. In ihren Artikeln zu Karl Valentin und Ernst Lubitsch setzen sich Jan-Christopher Horak und Heide Schlüpmann mit einem Genre auseinander, in dem den deutschen Regisseuren häufig schlicht Unfähigkeit vorgeworfen wird: die Komödie. Sabine Lenk präsentiert schließlich erste Resultate ihrer Forschungen zur Geschichte einer ausländischen Produktionsfirma, der französischen "Eclair", in Deutschland und Österreich. Friedrich Güttinger, der unlängst verstorbene Schweizer Sammler und Journalist, dem wir zwei ebenso schöne wie wichtige Anthologien zeitgenössischer Quellentexte verdanken, wird von Roland Cosandey in einem Nachruf geehrt.

In einer weiteren Rubrik stellt KINTOP laufende Untersuchungen und Debatten dar. Yuri Tsivian, Filmhistoriker aus Riga, vergleicht Filme von Yevgeni Bauer und Lev Kuleshov mit Hilfe statistischer Untersuchungen, wie sie vor allem durch Barry Salt bekannt, in Deutschland aber schon früher von Herbert Birett durchgeführt wurden.

Jeder Band von KINTOP wird ein kommentiertes historisches Dokument enthalten. Ein Brief von Ludwig Stollwerck an Ernst Searle vom 30.1.1896, eingeleitet von Martin Loiperdinger, gibt Aufschlüsse darüber, wie der Cinématographe Lumière nach Deutschland kam. Ein abschließender Teil enthält Informationen, Rezensionen, Kongreßberichte und Porträts. Die nächste Ausgabe von KINTOP wird mit ihrem Schwerpunktthema Georges Méliès gewidmet sein. Die Herausgeber wollen an dieser Stelle Herrn Prof. Schobert und dem Deutschen Filmmuseum Frankfurt/M., dem Bundesministerium des Inneren sowie allen Sponsoren-Inserenten für die finanzielle Unterstützung danken, ohne die das Projekt nicht hätte realisiert werden können. Unser Dank gilt auch Herrn Dr. Gerd Albrecht und dem Deutschen Institut für Filmkunde, Enno Patalas und dem Münchner Filmmuseum, den Giornate del cinema muto und der Biblioteca dell'Immagine in Pordenone, dem Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Jürgen Berger, Heide Schlüpmann sowie allen Autoren, die ihre Texte unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben.

Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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