Editorial

 Als 1992 die erste Ausgabe von KINtop, dem Jahrbuch zur Erforschung des
frühen Films, erschien, wollten die Herausgeber ein Forum schaffen, »das
regelmäßig über die Forschung und die Diskussionen im Bereich des frühen
Kinos berichtet, das wichtige ausländische Artikel in deutscher Übersetzung
veröffentlicht, deutschen Forschern Gelegenheit gibt, ihre Arbeit zu präsentieren,
und das immer wieder auch englisch- oder französischsprachige
Originalbeiträge publiziert«. Heute, fünfzehn Jahre später, können wir mit
einem gewissen Stolz feststellen, daß uns dies weitgehend gelungen ist (nur
die französischsprachigen Beiträge sind eine Ausnahme geblieben): Mit einigen
Themenschwerpunkten, etwa zum frühen nicht-fiktionalen Film, zu den
Aktualitäten, zu Aufführungsformen, zur Projektionskunst oder frühen Programmen,
haben wir sogar in mancher Hinsicht Neuland betreten. Renommierte
internationale Filmhistoriker haben Beiträge geschrieben, die als Erstveröffentlichung
in KINtop erschienen sind. Zugleich haben wir auch immer
wieder jungen Forschern die Möglichkeit geboten, ihre Arbeiten in KINtop
der Fachöffentlichkeit vorzustellen. Tatsächlich war KINtop über viele Jahre
international das einzige Periodikum, das sich ausschließlich dem Kino der
Frühzeit widmete. Erst 2001 erschien die Zeitschrift Living Pictures, die nach
vier Ausgaben eingestellt wurde, seit 2005 jedoch in Early Popular Visual Culture
eine Fortsetzung gefunden hat.
Wenn wir nun mit der Doppelnummer 14 /15 die letzte Ausgabe des Jahrbuchs
KINtop vorlegen, so nicht, weil wir denken, daß für dieses Forum heute
kein Bedarf mehr besteht. Ganz im Gegenteil, die hier veröffentlichten Beiträge
zeigen erneut, wie lebendig das Forschungsgebiet ist, und wie viele interessante
Fragen noch unbeantwortet, wie viele Probleme noch ungelöst sind.
Ebensowenig hat die Redaktion selbst das Interesse am frühen Kino verloren:
Die Reihe KINtop Schriften wird fortgesetzt, mit Monographien sowie mit
Sammelbänden, die das Prinzip des Jahrbuch-Themenschwerpunkts in loser
Folge weiterführen werden.
Die Gründe für unsere Entscheidung liegen einerseits im Organisatorischen
– wir konnten den jährlichen Rhythmus der Veröffentlichung nicht
mehr aufrechterhalten –, andererseits im Finanziellen. Gelang es in der Zeit
vor und unmittelbar nach den »Hundert Jahre Kino«-Feierlichkeiten noch,
von öffentlichen oder privaten Institutionen Förderung für ein Projekt wie
KINtop zu erhalten, ist dies inzwischen nahezu unmöglich. Der Interessentenkreis
für ein derart spezialisiertes Periodikum ist wiederum zu begrenzt, um
die Finanzierung über Abonnements und Verkauf sicherzustellen – zumal in
einer Zeit, in der die Bibliotheken zu ständig weitergehenden Sparmaßnahmen
gezwungen werden. Weder die Redaktion noch der Verlag sehen sich unter
diesen Voraussetzungen in der Lage, den Fortbestand eines verläßlich und
regelmäßig erscheinenden Jahrbuchs zu gewährleisten.
Die Erforschung des frühen Films und Kinos bleibt den Herausgebern
jedoch ein wichtiges Anliegen, und die Fortführung von KINtop Schriften
bietet die Voraussetzung dafür, daß im deutschsprachigen Raum weiterhin
Bücher zu diesem Thema erscheinen werden. KINtop wird also immerhin in
dieser Form weiterbestehen. Wer darüber informiert werden möchte, kann
gern eine E-mail an die KINtop-Redaktion schicken, um in den Verteiler unseres
elektronischen KINtop Newsletter aufgenommen zu werden.
Wir danken an dieser Stelle unseren Leserinnen und Lesern wie auch allen
unseren Autorinnen und Autoren, ohne die dieses Jahrbuch nicht fünfzehn
Jahre lang hätte existieren können. Unser Dank gilt vor allem auch dem Stroemfeld
Verlag, der sich auf das Wagnis eines Periodikums zu einem so exotischen
Gegenstand eingelassen hat und uns all die Jahre tatkräftig unterstützte. Im
Rahmen der Reihe KINtop Schriften wird diese Zusammenarbeit fortgesetzt
werden.
Für die letzte KINtop-Ausgabe, die als Doppelnummer 14 /15 eine Reihe von
Beiträgen zum Thema Quellen und Perspektiven versammelt, haben die Herausgeber
einen übergreifenden Schwerpunkt gewählt, um darauf hinzuweisen,
daß die Mediengeschichte des frühen Films und Kinos noch viele Forschungsfelder
bietet, die es verdienen, näher untersucht zu werden. Die englischsprachigen
Beiträge in dieser Ausgabe mögen verdeutlichen, daß Forschungen
in diesem Bereich oft nur dann sinnvoll sind, wenn sie den internationalen
Kontext – sowohl der zeitgenössischen Medienentwicklung wie der aktuellen
Forschung – berücksichtigen.
Inzwischen besteht weitgehend Konsens darüber, daß die Geschichte von
Film und Kino in Europa nicht mit einer ›Geburt‹ am 28. Dezember 1895
im Souterrain des Grand Café in Paris begonnen hat. Die erste kommerzielle
Projektion von photographischen Reihenaufnahmen auf Zelluloidstreifen,
seinerzeit ›Films‹ genannt, mittels des Cinématographe Lumière fand mitten
in einem Medienumbruch von Photographie und Projektionskunst statt. Darauf
verweist einmal mehr der umfangreiche Beitrag von Deac Rossell zu den
Akteuren und zur Chronologie von Vorführungen ›bewegter Bilder‹, die sich
den stroboskopischen Effekt zunutze machten, bis Ende des Jahres 1895. Rossell
ergänzt damit seine Chronology of Cinema 1889-1896, die 1995 als Ausgabe
der Zeitschrift Film History (Vol. 7, No. 2) erschienen ist.
Mittlerweile wird auch zunehmend klar, daß die Projektionskunst in den
Industrialisierungsregionen vieler Länder spätestens in den 1880er Jahren zu
einem Massenmedium wurde und dies wenigstens bis zum Ersten Weltkrieg
auch blieb – nicht zuletzt in Programmkombinationen mit kinematographischen
Aufführungen. KINtop 14 /15 eröffnet deshalb mit einem Themenblock
zur Projektionskunst: Am Beispiel einer Illustration zu Robertsons Phantasmagorien
stellt Ludwig Vogl-Bienek Überlegungen zu den grundsätzlichen
Parametern von Projektionsaufführungen an. Torsten Gärtner stellt exemplarisch
Reichweite, Organisationen, Akteure und Programme des nichtkommerziellen
Sektors der Magic Lantern in England vor – anhand einer umfassenden
Auswertung entsprechender Veranstaltungsanzeigen und -berichte
im Verbandsorgan der Sunday School Union, die sich dem außerschulischen
Religionsunterricht widmete. Koloniale Diskurse in kommerziellen Projektionsaufführungen
untersucht Vanelle Blankenship. Als Quellenkorpus dienen
ihr die gedruckten Programmankündigungen des Schaustellerunternehmens
Carl Skladanowsky & Söhne, die – bisher weitgehend unbeachtet – im
Nachlaß von Max Skladanowsky zugänglich sind. KINtop setzt damit Beiträge
von Ludwig Vogl-Bienek (KINtop 8) und Hauke Lange-Fuchs (KINtop
11) fort in der Absicht, mediengeschichtlich fundierte Forschungsergebnisse
und Forschungsfragen zu den immer noch als Filmpionieren mißverstandenen
Gebrüdern Skladanowsky zu veröffentlichen. Yvonne Zimmermann schließt
den Themenblock zur Aufführung ›stehender Lichtbilder‹ ab: Indem sie einen
Schulaufsatz über einen Lichtbildervortrag der Firma Maggi präsentiert, macht
sie auf eine kaum genutzte Quellengattung zur Publikumsgeschichte aufmerksam
und öffnet Perspektiven auf ein verborgenes Feld der Mediengeschichte,
nämlich den nichtkommerziellen Gebrauch von Diapositiven und später
auch Filmen durch Privatfirmen für die Verkaufsförderung. In diesem Bereich
reicht der Aufführungsmodus des frühen Attraktionskinos offenbar noch bis
in die Tonfilmperiode hinein.
Die Geschichtsschreibung der frühen Kinematographie hat sich zunächst
mit den übrig gebliebenen Artefakten beschäftigt: mit den technischen Geräten
zur Aufnahme und Wiedergabe von Filmen sowie vor allem mit den mehr oder
minder fragmentarisch überlieferten Filmen selbst, die von den Filmarchiven
erst von Nitratmaterial auf Safety-Film transferiert und teilweise aufwendig
restauriert werden mußten, um sie überhaupt für die Forschung zugänglich
zu machen. Da die Filme des frühen Kinos keine selbständigen Werke
sind, sondern als Programmnummern – meist mit Sprecherkommentierung
bzw. Musikbegleitung – projiziert wurden, stellt sich die Frage nach ihrem
Aufführungszusammenhang gleichsam von selbst. Die Orte der Aufführung
haben heute in der Regel anderen Baulichkeiten und Verwendungszwecken
Platz gemacht. Ihre Geschichte läßt sich jedoch über erhaltene Archivalien
oft noch recht gut verfolgen: Wie Sabine Lenk an dem Düsseldorfer Vergnügungskomplex
Adersstraße 17-19 minutiös demonstriert, können Bauakten
nicht nur über bauliche Veränderungen Auskunft geben, sondern auch über
Besitzverhältnisse, über wechselnde Unterhaltungsangebote am selben Ort
und nicht zuletzt über den Einfluß, den die Sicherheitsauflagen der Genehmigungsbehörden
auf Gestaltung und Ausstattung von Projektionssälen haben.
Zahlreiche Lokalstudien zur Kinogeschichte verwenden Bauakten, werten sie
in der Regel aber nur für ihre am Lokalen orientierten Erkenntnisinteressen
aus. Eine systematische Untersuchung von Bauakten zur Mediengeschichte
von Aufführungsorten steht für die Zeit des frühen Kinos noch aus. Indirekt
geben Baupläne auch Aufschluß über Arbeitsbedingungen des Kinopersonals,
das bisher wenig Aufmerksamkeit bei Filmhistorikern gefunden hat. Gewerkschaftlich
orientierte Zeitschriften bieten dazu reichhaltiges Quellenmaterial:
Bert Hogenkamp zeigt an De Lichtstraal, dem Organ des Verbandes der niederländischen
Theater- und Kinoangestellten, was das organisierte Personal
unter maßgeblicher Beteiligung der Filmerklärer unternommen hat, um Kinobesitzern
bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne abzutrotzen.
Keinerlei Untersuchungen sind in der neueren Forschungsliteratur zu den
Frontkinos des Ersten Weltkriegs zu finden. Cornelia Kemp präsentiert ein
Amateurphoto aus einem Privatalbum, das ein Soldat von einem aus rohen
Baumstämmen gezimmerten Frontkino an der Ostfront gemacht hat. In diesem
Bild scheint auch verborgene Publikumsgeschichte auf, denn der Photograph
war auch mutmaßlicher Zuschauer in dem provisorischen Kino, das er
abgelichtet und in sein Erinnerungsalbum aufgenommen hat. Insgesamt hat
das Publikum von allen am frühen Kino beteiligten Akteuren die wenigsten
Spuren hinterlassen. Abgesehen von den Rechnungsbelegen der Kinobesitzer
für die Ermittlung der Vergnügungssteuer finden sich in Behördenakten hin
und wieder spärliche Hinweise – vor allem dann, wenn das Publikum auffällig
wurde. Wie Martin Loiperdinger an Münchner Polizeiberichten zeigt, konnten
politisch unerwünschte Mißfallensäußerungen ohne weiteres ein Verbot
der entsprechenden anstößigen Bilder bzw. Filme nach sich ziehen – daß die
Staatsgewalt die öffentliche Ruhe und Ordnung auf diese Weise wiederherstellte,
gab den Protesten nachträglich recht. Indirekte Hinweise zum zeitgenössischen
Filmverständnis des Kinematographenpublikums lassen sich
mitunter Artikeln der Branchenpresse zu strittigen Fragen entnehmen: Frank
Kessler untersucht, auf welche Weise ein Artikel aus dem Jahr 1906 den Begriff
»Fake« verwendet, wobei einmal mehr deutlich wird, wie wichtig es ist, die
Terminologie der Zeit historisch zu rekonstruieren.
Welche Filme wann und wo auf die Leinwand geworfen wurden, darüber
entschied nicht zuletzt die Distribution, über deren Akteure und Strukturen
in der Zeit des frühen Kinos recht wenig bekannt ist. Verkaufs- und Verleihkataloge
des Filmangebots einzelner Herstellerfirmen gelangen erst in jüngster
Zeit in den Blick der Forschung. Filmkatalogen der Dresdner Ernemann AG
für Heimkino-Vorführungen entlockt Martina Roepke Rezeptionsanleitungen
fürs Familienpublikum. Geschäftskorrespondenzen von Filmverleihern sind
in der Regel komplett vernichtet worden – mit Ausnahme des einzigartigen
Nachlasses von Jean Desmet, zu dem Ivo Blom bereits zwei KINtop-Artikel
(KINtop 3 und KINtop 11) beigesteuert hat. Diesmal stellt Nico de Klerk
aus der Sicht eines publikumszugewandten Archivs Überlegungen an, wie die
Geschäftsbriefe von Desmet und seinen Kunden für unterschiedliche kultur
geschichtliche Bedürfnisse erschlossen und zugänglich gemacht werden können.
Wie sich Filme aus den 1910er Jahren heutzutage als Event für Kinoliebhaber
inszenieren lassen, das zugleich den historischen Kontext wieder aufscheinen
läßt und Aufmerksamkeit für die untergegangene Kultur des frühen Kinos
weckt, diskutiert Eric de Kuyper an Aufführungsprojekten der Cinémathèque
Royale de Belgique. Als Instrument für die künftige Forschung stellen Joseph
Garncarz und Michael Ross die reichhaltigen Siegener Datenbanken zum frühen
Kino in Deutschland vor. Online abrufbar sind in Bälde nicht nur die
sogenannten Birett-Daten bis 1920, sondern auch Filmprogrammdaten und
Standorte von Wanderkinos – Zukunftsmusik für mediengeschichtliche Kärrnerarbeit,
die dank der in den beiden letzten Jahrzehnten weit fortgeschrittenen
Restaurierungsarbeit der Filmarchive auf die sinnliche und ästhetische Seite
des frühen Kinos keineswegs verzichten muß. Zum Schluß ruft uns Mariann
Lewinsky ein persönliches Addio KINtop zu und klärt zugleich auf, was es mit
dem geheimnisvollen Daumenkino in dieser Ausgabe auf sich hat.
Nachzutragen bleibt, daß sich zuguterletzt noch ein Beitrag zu einem Film
ergeben hat: Martin Loiperdinger untersucht DES PFARRERS TÖCHTERLEIN, der
in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsselfilm für die Karriere von Henny Porten
ist. Und Matthew Solomon berichtet vom diesjährigen Domitor-Kongreß
in Ann Arbor, der dem Thema »The ›National‹/›Nation‹ and Early Cinema«
gewidmet war.
Der Dank von Redaktion und Verlag gilt – ein letztes Mal – den Autorinnen
und Autoren, die Ihre Beiträge für diese Ausgabe unentgeltlich zur
Verfügung gestellt haben.
Um den Leserinnen und Lesern die Orientierung in der Themenvielfalt des
frühen Kinos zu erleichtern, sind dieser letzten Ausgabe von KINtop. Jahrbuch
zur Erforschung des frühen Films ausführliche Verzeichnisse beigegeben:
Neben den Inhaltsverzeichnissen aller erschienenen KINtop-Ausgaben finden
sich alphabetisch geordnet die Beiträge der Autorinen und Autoren, die
besprochenen Bücher sowie der Filmindex und der Personenindex von KINtop
1 bis KINtop 14/15. Wir hoffen, daß KINtop mit diesen Gelegenheiten
zum Nachschlagen noch lange in Gebrauch bleiben wird.
Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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