Vorwort

Aus dem Vorwort der Herausgeber

Bis zu den Untersuchungen von Deac Rossell und der Düsseldorfer Ausstellung war in der Öffentlichkeit nicht bekannt, daß Ottomar Anschütz Bedeutendes im Bereich der Chronophotographie geleistet hatte. Seine Neuerungen auf dem Gebiet der Photographie (u. a. Brennebenen-Verschluß) werden in Fachbüchern genannt. Blättert man weiter zu den Kapiteln über die Reihenphotographie, sind nur noch der amerikanische Photograph Eadweard Muybridge und Etienne-Jules Marey präsent. Denn der Amerikaner, oft auch der Franzose, werden gewöhnlich von den Photo- und Kinogeschichten wie auch von Ästhetik- und Kunstbüchern genannt, selbst wenn die Forschung mittlerweile zu neueren Ergebnissen gelangte: Durch Laurent Mannonis Forschung zur Vorgeschichte der Kinematographie kennt man seit einigen Jahren z. B. die Leistungen von Mareys Assistenten Georges Demenÿ, um nur einen Fall zu nennen. Dieser war vorher ebenso unbekannt bzw. unterschätzt worden wie Anschütz. Demenÿ konnte dank einer Reihe von Publikationen dem Vergessen entrissen werden. Die Mitarbeiter des Filmmuseums Düsseldorf und die Redaktion von KINtop Schriften wünschen sich dasselbe für Ottomar Anschütz, auch wenn allen Beteiligten bewußt ist, daß es Jahre, ja Jahrzehnte dauern kann, bevor die allgemein ›bisher gültige‹ Vorstellung über die Entstehung der Kinematographie sich ändert und neue Erkenntnisse in die ›offizielle Darstellung‹ einfließen.
Gerade im Fall von Anschütz erschwerten bisher falsche Vorstellungen eine Würdigung seiner Leistung. Wie Deac Rossell zeigt, war der Name Anschütz nicht vollkommen vergessen, sondern in Photographenkreisen durchaus noch bekannt. Die Erinnerung an ihn als »Autor von Storchenaufnahmen«, die bereits kurz nach seinem Tode im Jahr 1907 aufkam und bis heute andauert, prägte über Jahrzehnte sein Bild und hielt viele Forscher davon ab, sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Deac Rossells Forschungen und die Ausstellung machen nicht nur auf die großartigen Leistungen aufmerksam, die ihm einen Platz unter den Erfindern photographischer Apparate sichern. Die Qualität und Originalität seiner chronophotographischen Arbeiten stellen ihn auch in eine Reihe mit Muybridge und Marey.
 Darüber hinaus kann man ihn unter die Pioniere der Kinematographie zählen. Man sollte in diesem Zusammenhang zwar nicht vergessen, daß die Chronophotographie ihren eigenen Gesetzen folgte, welche ihre Weise, mit lebenden Bilder zu arbeiten, und auch ihre Ziele bestimmten. Im Fall von Ottomar Anschütz ist die Verbindung zwischen beiden Techniken jedoch eindeutig gegeben. Er konstruierte mit seinem Schnellseher nicht nur ein Betrachtungsgerät für die Wiedergabe von bewegten Photographien, sondern betrieb mit der Automatenversion des Schnellsehers auch zielstrebig die kommerzielle Auswertung seiner Erfindung. Nicht zuletzt gab er die erste kinematographische Vorstellung: Gegen Zahlung von Eintritt waren im November 1894 in Berlin bewegte Photographien in einer Großprojektion zu sehen.
Definiert man Kinematographie als a) Projektion b) von Bewegung c) mittels photographisch reproduzierter Bilder d) vor zahlendem Publikum, dann ist es beim gegenwärtigen Forschungsstand Ottomar Anschütz, dem dieses Erstlingsrecht gebührt. Streitig machen könnte ihm diesen Platz allenfalls der Franzose Emile Reynaud, der in seinem Théâtre Optique das Pariser Publikum schon ab 1892 mit der Projektion bewegter Bilder zu unterhalten wußte. Reynaud benutzte jedoch nicht die photographische Reproduktionstechnik, sondern arbeitete mit handgemalten Filmstreifen und Glasbildern. Er führte Unikate vor, die für eine Vervielfältigung nicht gedacht waren.
Wichtiger und folgenreicher als der Ehrentitel der ersten kinematographischen Vorstellung ist Anschütz’ Beitrag zur Entwicklung der modernen visuellen Medien: In jedem Fall hat Ottomar Anschütz mit seinem Schnellseher sowohl Anteil an der Photographie- wie auch der Kinematographiegeschichte. Für letzteres spricht, daß er, anders als die meisten anderen Chronophotographen, von Anfang an das Unterhaltungspotential der bewegten Bilder ausschöpfen wollte. Er sann über verschiedene Wege nach, seine Aufnahmen einem zahlenden Publikum vorzuführen. Darüber hinaus gelang es ihm, seine Erfindung industriell herstellen zu lassen, international zu vertreiben und dadurch einem großen Publikum zugänglich zu machen. Die Kommerzialisierung der Bilder und der Anspruch, mit ihnen die Menschen über die Grenzen hinweg unterhalten zu wollen, ist um 1900 wie heute Teil des Medienkonzepts ›Kinematographie‹.
Nicht eine neue Antwort auf die alte (und überholte) Frage: »Wer hat das Kino erfunden?« ist also das Anliegen von Ausstellung und Buch, sondern die Entdeckung eines direkten Verbindungsglieds zwischen dem ›Zeitalter der Photographie‹, wenn man das 19. Jahrhundert so nennen darf, und dem ›20. Jahrhundert der Kinematographie‹: Ottomar Anschütz verdanken wir Fortschritte in beiden Medien.
Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger

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