Editorial
Unter der Bezeichnung "Projektionskunst" werden seit den 1830er Jahren vielfältige Formen von Lichtbild-Aufführungen verstanden, die von Vorstellungen in Privathaushalten über wissenschaftliche Vorträge bis zu opulenten Unterhaltungsprogrammen führender Varieté-Theater reichen. Von den Anfängen der Laterna magica im 17. Jahrhundert hat sich die Projektionskunst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dank der photographischen Reproduktion zum ersten visuellen Massenmedium mit industrieller Fertigung und Distribution entwickelt.
Die Erfindung und Verbreitung des Films erfolgte in einem Milieu, das sozial, technisch, ökonomisch und ästhetisch von der Projektionskunst der Laterna magica geprägt war. So übernahm die Kinematographie die Lichtquellen und die Konstruktion des Strahlengangs für die Filmprojektion von den erprobten Techniken der Laterna magica. Auch die Gestaltung der Filmvorführungen lehnte sich eng an die bewährte und vom Publikum honorierte Aufführungspraxis stehender Lichtbilder an. Viele Photographen und Schausteller betrachteten die "lebenden Bilder" als Erweiterung der Projektionskunst, mit der sie ihr Sortiment oder Veranstaltungsangebot um eine Attraktion bereichern konnten.
Die Filmgeschichtsschreibung, lange Zeit fixiert auf eine vermeintliche 'Stunde Null' der Kinematographie im Jahr 1895, hat die Projektionskunst teleologisch auf die Rolle eines technischen Vorläufers des Kinos reduziert. Zum 100. Jahrestag der ersten kommerziellen Vorführung des Cinématographe Lumière im Pariser Grand Café, die in Europa als "Geburtstag des Kinos" gefeiert wurde, zeichnete sich aber bereits eine historisierende Betrachtung der Medienumbrüche an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ab. Inzwischen ist in den romanischen und angelsächsischen Ländern eine Reihe von Fachpublikationen erschienen, welche auf die lange Tradition aufmerksam machen, in der die Projektion von Film auf Leinwand steht.
KINtop-Leser kennen bereits zwei Beiträge zur Projektionskunst von Ludwig Vogl-Bienek (KINtop 3) und Hiroshi Komatsu (KINtop 7). Mit dem Schwerpunkt "Aufführungsgeschichten" (KINtop 5) haben wir die Inszenierung von Filmprojektionen und die Wahrnehmungserlebnisse des Publikums im frühen Kino thematisiert. Wir führen diesen Fokus auf das Ereignis des Lichtspiels nun in einer weiter gefaßten medienhistorischen Perspektive fort und befassen uns in dieser Ausgabe mit dem Zusammenhang von Film und Projektionskunst.
Nach einer kleinen Reverenz zum Goethe-Jahr eröffnen wir KINtop 8 mit einer Bilderserie aus dem Repertoire der Projektionskünstler Carl, Max und Emil Skladanowsky sowie Erläuterungen von Franz Paul Liesegang zu Nebelbilder-Apparaten und zum Kinematographen. Ine van Dooren gibt einen Überblick über die verschiedenen Formen virtueller Medien-Reisen im 19. Jahrhundert. Entgegen geläufigen Auffassungen stellt Jens Ruchatz ineiner Skizze zur Entwicklung der Photoprojektion in Deutschland fest, daß diese ihren großen Aufschwung parallel zur Etablierung des Kinos erlebte.
Mit einem grundsätzlichen Beitrag wendet sich Deac Rossell gegen die herkömmlichen Technikgeschichten der Filmhistoriographie: Statt weiterhin teleologische Sichtweisen zu pflegen, die an einer Handvoll glorreicher Erfindergestalten ausgerichtet sind, schlägt Rossell eine sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Neubesinnung vor, die dem Mißerfolg alternativer Möglichkeiten der Filmprojektionstechnik den gleichen Forschungsrang einräumt wie der scheinbar selbstverständlichen Durchsetzung derjeniger Verfahren, die heutzutage gängig sind. Im Anschluß daran stellt Ludwig Vogl-Bienek die von Filmhistorikern bisher weitgehend ignorierte Tätigkeit von Carl, Max und Emil Skladanowsky als renommierte Nebelbild-Schausteller vor, denen es aufgrund ihrer jahrelangen Projektionserfahrung gelang, einen Nebelbilder-Apparat für die Filmprojektion zu konstruieren.
Wolfgang Fuhrmann beschreibt den Wechsel von stehenden zu bewegten Lichtbildprojektionen in der Werbearbeit der Deutschen Kolonialgesellschaft. William Paul versteht das Kino als "unheimliches Theater" und rekonstruiert sein doppeltes Erbe. Er untersucht, wie sich die Traditionen der phantasmagorischen Projektionen und des naturalistischen Theaters auf die Präsentation der Filmprojektion in den Vorführsälen auswirkten.
Außerhalb des Schwerpunkts plädiert Alison MacMahan dafür, scheinbar gesicherte Forschungsergebnisse der Stummfilmgeschichte im Lichte einer Neubetrachtung der frühen Tonbilder zu überprüfen. In einem englischsprachigen Beitrag nehmen Uli Jung und Stephanie Roll eine Retrospektive aller erhaltenen Filme Franz Hofers in Saarbrücken zum Anlaß, die Filmästhetik dieses vielbeschäftigten Regisseurs der 1910er Jahre zu untersuchen. Jeanpaul Goergen stellt einen wiederentdeckten Brief John Heartfields über expressionistische Filmpläne vor.
Ergänzend zu ihrem Beitrag in KINtop 7 über schriftliche Publikationen aus Filmarchiven diskutiert Sabine Lenk einige Projekte zur Visualisierung mediengeschichtlicher Forschungsergebnisse. Michael Wedel bespricht eine jetzt als Buch vorliegende Hamburger Vorlesungsreihe, die den Forschungsstand zum frühen deutschen Kino hierzulande kennzeichnet.
Die nächste Ausgabe von KINtop, die im Sommer 2000 erscheint, widmet sich dem Themen-Schwerpunkt "Lokale Kinogeschichten".
Wir danken den Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge für diese Ausgabe unentgeltlich geschrieben haben. Für ihre Hilfe beim Zustandekommen dieser Ausgabe danken wir außerdem Maria-Luise Sachs, Gabi Stephan, Tom Gunning, dem Bundesarchiv, dem Illuminativ-Theater und der Bibliothek des Deutschen Filminstituts und Deutschen Filmmuseums in Frankfurt am Main. Besonderen Dank sprechen Redaktion und Verlag dem Präsidenten der Universität Trier für seine Unterstützung aus.
Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger
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