18.6.: Winfried Schulze (München) über den Juristen Helmut Schneider in der Nachbarschaft der "Zone of Interest"

Der Vortrag widmet sich der komplexen Geschichte eines deutschen Juristen, der von 1941 bis 1945 in unmittelbarer Nähe der „zone of interest“ des KZ Auschwitz arbeitet. Der Gegner des Nationalsozialismus ist leitender Mitarbeiter im Personalbereich der IG Auschwitz, einem 1941-1945 in unmittelbarer Nachbarschaft zum KZ Auschwitz mit Hilfe von Tausenden jüdischer Häftlinge errichteten Chemiewerk der IG-Farben. Er wird damit zum Mitorganisator des Systems der Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen und damit der „Vernichtung durch Arbeit“ in diesem Lager, zum systemischen Mittäter. Im kleinen Kreis äußert er sich aber kritisch über die „Schinderei“ der Häftlinge und die „Gewaltherrschaft“ der Nazis. Zugleich wird er zum Beschützer einer großen Gruppe französischer Zwangsarbeiter, deren Aktivitäten für die Résistance er unterstützt und die er im Januar 1945 auf dem gefährlichen Weg nach Westen begleitet. Das trägt ihm den Titel des „anti-nazi assesseur Schneider“ ein, die französische Regierung lobt seine „bienveillance“ gegenüber den Zwangsarbeitern. Mit den jungen Franzosen schließt er eine lebenslange Freundschaft, die u.a. zu einer deutsch-französischen Städtepartnerschaft führt. Nach seiner Zeugenaussage im Nürnberger Prozess gegen die IG Farben, einem langwierigen Entnazifizierungsverfahren und einem Strafprozess gegen ihn wird er 1949 Oberstadtdirektor von Goslar, Verfasser politisch-philosophischer Texte und Briefpartner und Freund von Ernst Jünger.

Schneider ist eine gespaltene Persönlichkeit. Er funktioniert im System der IG Auschwitz, trotzdem arbeitet er für die französische Résistance und informiert einen deutschen Widerstandskämpfer Hans Deichmann bei seinen Besuchen in Auschwitz über die Vorgänge im Lager und über Rüstungsdetails. Gleichwohl bleibt er seinem Chef in der Aussage in Nürnberg verbunden und hält ihm 1967 eine Grabrede, die das Wort Auschwitz vermeidet. In Auschwitz verdrängt er sein Mittun im System durch die Sorge für „seine“ Franzosen, er wird zum „Franzosen-Schneider“. Nach 1945 verdrängt er eine selbstkritische Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit durch die dauerhafte Bindung zu den französischen Freunden.

 

Prof. em. Dr. Winfried Schulze war von 1993 bis 2008 Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Ludwig-Maximilian-Universität München.