Kartographie des Unbekannten

Das ist: Landkarten imaginärer Regionen und nicht existierender Inseln, Wegweiser in die terrae incognitae und sogar der Versuch einer Kartographie der Zeit – denn das Wissen und die Welt sind begrenzt, ohne Schranken dagegen die Geduld von Kupferplatte und Zeichenpapier.

Terra cognita und terra incognita sind gleichermaßen präsent in diesem wahrscheinlich ältesten Zeugnis der Kartographiegeschichte, gefunden auf einer babylonischen Tontafel: das Bekannte, mit der eigenen Stadt im Mittelpunkt und umschlossen vom Weltmeer, und das Unbekannte, angezeigt durch ausstrahlende Gefahrenwegweiser in Gestalt mahnender Warndreiecke (ca. 600 v. Chr.). Ceram, C. W.: Götter, Gräber und Gelehrte: Roman der Archäologie
1493. - 1507. Tsd. Hamburg: Rowohlt, 1964. 494 S.: Ill., Kt.
Signatur: 34 = C.CER/pc 873

Van-See oder Schatt-el-Arab? Da stritten sich die Gelehrten – wessen Einzugsgebiet den Garten Eden bewässerte, war noch um 1700 Gegenstand eines heftigen, ja mit beinahe religiösem Eifer geführten Wissenschaftszwists, den erst Voltaire salomonisch löste: C’est bien en vain que, par l’orgueil séduits, Huet, Calmet, dans leur savante audace, Du paradis ont recherché la place: Le paradis terrestre est où je suis.

Huet, Calmet, verführt von ihrem blinden
Gelehrtenwahn, Hochmut und Eigensinn,
Wollten den Ort des Paradieses finden:
Das irdische Paradies ist, wo ich selber bin.

Lenglet du Fresnoy, Nicolas: Méthode pour étudier l'histoire: avec un catalogue des principaux historiens, & des remarques sur la bonté de leurs ouvrages, & sur le choix des meilleures éditions
Nouv. éd. Bd. 1. Paris: Gandouin, 1735. XXII, 503 S.: Ill., Kt.
Signatur: 99 = ag 471-1


Nicht nur weiße Flecken kannte die Kartographie, sondern auch deren Gegenteil: Nordatlantikinseln wie Friesland und Icaria (im 14. Jahrhundert von den Gebrüdern Zeno bereist) oder St. Brandain und Brasil waren jahrhundertelang bis in alle geographischen Details hinein bekannt. Erst dann wurde nach und nach klar, daß sie gar nicht existierten. Münster, Sebastian: Cosmographia
Bd. 1. Faksimile der Ausgabe Basel: Bey den Henricpetrinischen, 1628. Lindau: Antiqua-Verlag, 1978. 598 S.: Ill., graph. Darst., Kt.
Signatur: w 52738-1


Irgendwie hängt ja doch alles mit allem zusammen. Als Görres das Terrain der Mythengeschichte kartierte, schien er jedenfalls die Absicht verfolgt zu haben, Indras Netz neuzuerfinden.

Görres, Joseph von: Mythengeschichte der asiatischen Welt
Band 1: Hinterasiatische Mythen. Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1810. 660 S.: 1 Faltbl.
Signatur: 99 = af 2043


Von Wasserläufen durchzogen wie Platos Atlantis, amöbenförmig und burgenbesetzt wie Morus’ Utopia und nur durch abenteuerliche Schiffbrüche zu erreichen wie Robinsons Insel: In Schnabels „Felsenburg“ (der Roman erschien 1731-43) fand das 18. Jahrhundert die ersehnte Kombination aus Südatlantikromantik und Staatsideal.

Schnabel, Johann Gottfried: Die Insel Felsenburg
Hrsg. von Hermann Ullrich. Bd. 1. Berlin [u.a.]: Behr, 1902. LIV, 10, 467, [2] S.: Kt. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts)
Signatur: nc 7384:a


Nicht in der äußeren Welt ist diese Gebirgslandschaft zu finden; vielmehr handelt es sich um eine Karte des „inneren Landes”, nämlich des Körpers, durch den die Qi-Energie fließt wie Ströme und Bäche, während Paläste, Hallen und Tore seine Organe markieren und seine Spitze der mythische Weltberg Kunlun.   Daozang-jiyao [„Die wichtigsten Schriften des taoistischen Kanons“]
Maoji 3. (Jindan dayao u.a.) Nachdr. d. Ausg. s. l.: Erxian’an, 1906. Chengdu, Bashu Shushe: [1985]
Signatur: 99 = od 17620-152


Verblüffendes offenbart die Topographie des Erdinneren: Wie das beigefügte Kartendiagramm zeigt, nahm Holbergs satirischer Roman schon die Ideen der späteren Hohlwelttheorie vorweg.   Holberg, Ludvig : Nicolai Klims unterirdische Reise: worinnen eine ganz Neue Erdbeschreibung wie auch eine umständliche Nachricht von der fünften Monarchie, die uns bishero ganz und gar unbekannt gewesen, enthalten ist
Copenhagen [u.a.]: Preuß, 1741. 382 S.
Signatur: 99 = af 1763


An einer surrealistischen Kartographie der Zeit versuchte sich Max Morise 1928 in seinem „Itinéraire du temps de la préhistoire à nos jours“, versehen mit hilfreichen Instruktionen wie etwa der folgenden: „Da die Linie, der die Zeit folgt, nicht kontinuierlich verläuft, muß der Beobachter seine erhöhte Position ... aufgeben und sich auf einen Posten am Erdboden begeben, möglichst nahe der scharfen Kurve, die den Übergang ins 17. Jahrhundert markiert, wie in Abb. 1 gezeigt...“ Und er entläßt den Leser mit dem beruhigenden Hinweis: „Jenseits des Jahres 2000 gibt es nichts mehr.“   La révolution surréaliste
Reprint der Jahrg. 1924 -1929 (= No. 1-12. Paris: Gallimard). Paris: Place, 1975
Signatur: z 4935: a


Fragil und vielgestaltig die postkoloniale Inselrepublik Efica, monolithisch und dominant das übermächtige Imperium Voorstand: das Kartenbild sagt bereits alles über die beiden fiktiven Nationen in Careys Roman, hinter dessen Chiffren kaum verhüllt das Verhältnis zwischen Australien und den USA steht.

Carey, Peter : The unusual life of Tristan Smith
London [u.a.]: Faber and Faber, 1994. 422 S.: Kt.
Signatur: np 40682


Die Jesuiten waren wieder mal die Genauesten: In diesem Fall mußte die Kartographie das Jahr 1767 erreichen, um wieder an den Stand von 1604 anzuknüpfen. Die Vorstellung, Kalifornien sei eine Insel, 1625 von einem imaginativen Geographen erstmals in die Welt gesetzt, hielt sich bei manchen eifrigen Kopisten bis tief ins 18. Jahrhundert hinein – wenn man heutige Karten des „roten“ und des „blauen“ Amerika sieht, möchte man sie allerdings fast für prophetisch halten.

Diderot, Denis [Hrsg.]: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers
Recueil de planches sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques avec leur explication
Genève: Pellet, 1779. Getr. Zählung.
Signatur: 99 = ag 56(2)-Suppl,3


Neues Terrain erschloß sich dem Kartographen nicht nur durch Entdeckungen oder Konjekturen: 1814 hatte dieser hier Gelegenheit, seine Militärkarte Teutschlands aus gegebenem Anlaß ins Linksrheinische hinein zu erweitern.

Geographisches Institut Weimar: Supplement oder Erweiterung nach Westen der Topographisch-militairischen Charte von Teutschland in 204 Sectionen
Weimar, 1814. 47 Kt.; je Bl. 39 x 29 cm
Signatur: 99 = ag 170


Daß es siebentorig war, unterliegt keinem Zweifel – darüber hinaus mußte der Versuch einer topographischen Rekonstruktion des antiken Theben, wie der jeder historischen Kartographie, immer ein Wagnis im Unbekannten bleiben.   Sainte-Croix, Guillaume Emmanuel Joseph Guilhem de Clermont-Lodève de: Examen critique des anciens historiens d’Alexandre-le-Grand
2nde éd. Paris: Grand [u.a.], 1810. XXXII, 924 S.: Ill., graph. Darst., 3 gef. Kt.
Signatur: wa 5052(2) RA


Moralisierende Phantasiekarten waren im 18. Jahrhundert der letzte Schrei. Es ist allerdings schwer zu glauben, daß Mattheus Seutters „Symbolische sinnreiche in einer Belagerung und Bombardirung entworffene Vorstellung, wie man den Anfällen und Versuchungen der Liebe klug und tapffer zu begegnen“ (um 1730) nicht in Wirklichkeit als eine Anleitung zur Überwindung der Festungsmauern gedacht war.

Hale, Elizabeth: The discovery of the world: maps of the earth and the cosmos from the David M. Stewart collection
Montreal: David M. Stewart Museum, 1985. 87 S.: überw. Karten.
Signatur: g 34498