75 Jahre Grundgesetz: von Übergangsverfassung zu Dauerlösung

Drei Forschende der Universität Trier blicken zum Jubiläum der deutschen Verfassung auf aktuelle Fragen zur Demokratie.

Frau hat das Grundgesetz vor einem Bücherregal in der Bibliothek in der Hand.
Expertinnen und Experten der Universität Trier blicken aus ihren unterschiedlichen Forschungsperspektiven auf die Demokratie in Deutschland, deren Grundstein das vor 75 Jahren erlassene Grundgesetz legte.

Am 23. Mai 1949 wurde das deutsche Grundgesetz in Bonn verkündet und galt ab dem darauffolgenden Tag. 61 Männer und vier Frauen erarbeiteten die Artikel und legten so die Basis für unsere heutige Demokratie. Anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes beantworten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Trier Fragen zur Demokratie aus verschiedenen Perspektiven.

Hätte es eine Volksabstimmung über das Grundgesetz gebraucht?

Prof. Dr. Claudia Ritzi, Politikwissenschaft

Wenn sich ein Provisorium bewährt, bleibt es oft weit länger als ursprünglich geplant im Einsatz. Dies gilt, in gewisser Weise, auch für das Grundgesetz. Bis heute haben die Deutschen nicht über ihre Verfassung abgestimmt, trotzdem hat sich das Grundgesetz von einer Übergangsverfassung zur erfolgreichen „Dauerlösung“ entwickelt. Dabei genießt es ein hohes Ansehen in der Bevölkerung, dennoch hätte Deutschland von einer Verfassungsreform im Kontext der Wiedervereinigung profitieren können.

Im Jahr 1949 war eine Volksabstimmung über die neue Verfassung nicht vorgesehen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates betrachteten das Grundgesetz ohnehin als Übergangslösung. Sie verankerten das Ziel der Wiedervereinigung explizit in der Präambel des Verfassungstextes – und damit auch die Hoffnung auf eine spätere Diskussion darüber, ob diese oder eine neue Verfassung für das geeinte Deutschland gelten sollte.

Mit dem Ende der DDR war dieser Zeitpunkt gekommen. Alternativ zum Beitritt der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hätten die Deutschen die Möglichkeit gehabt, sich eine neue, gesamtdeutsche Verfassung zu geben. Die politischen Eliten lehnten dies ab, da sich das Grundgesetz bewährt hatte, da es schon damals – auch in den neuen Ländern – hohes Ansehen genoss, und weil die Wiedervereinigung möglichst schnell vollzogen werden sollte.

Rückblickend ist dies jedoch, trotz aller Qualitäten des Grundgesetzes, als vertane Chance zu werten: Eine gemeinsame Verfassungsdiskussion hätte nicht nur die Bedeutung der neuen Länder für Deutschland anerkannt und diese symbolisch zum Ausdruck gebracht, sondern es wäre auch eine gute Gelegenheit gewesen, um die Verfassung politisch zu reformieren – beispielsweise standen Themen wie Umweltschutz schon damals auf der Agenda. Ebenso hätte sich dies als Möglichkeit geboten, das Grundgesetz vom Volk bestätigen zu lassen und damit die Identität des geeinten Deutschlands zu stärken.

Porträtfoto von Claudia Ritzi

Wieso wählen Menschen antidemokratische Parteien?

Prof. Dr. Eva Walther, Sozialpsychologie

Die Popularität antidemokratischer Parteien lässt sich aus zwei Perspektiven erklären. Erstere, eher politikwissenschaftliche, beschäftigt sich mit der Frage, was antidemokratische Parteien anbieten, um Wähler und Wählerinnen anzuziehen. Zweitere, eher psychologische Perspektive zielt auf unerfüllte Bedürfnisse ab, die antidemokratische Parteien adressieren.

In unserem Forschungsansatz berücksichtigen wir beide Perspektiven. Daher begreifen wir die Wahl von antidemokratischen Parteien als einen Bewältigungsmechanismus, um mit individuellen oder gruppenbasierten unbefriedigten Bedürfnislagen umzugehen. Anti-demokratische Parteien greifen Defizite und Versäumnisse anderer Parteien auf und adressieren in ihrer politischen Agenda die unbefriedigten Grundbedürfnisse nach Wertschätzung, ökonomischer Sicherheit, Vertrauen und Kontrolle. Beispielsweise fühlen sich manche Gruppen der Mehrheitsgesellschaft durch verstärkte Gleichstellung und Modernisierung, aber auch durch Liberalisierung der Gesellschaft in ihrem Status und in ihrer Wertschätzung bedroht. Rechtsaußen Parteien wie die AfD greifen diese Bedürfnisse auf und signalisieren Möglichkeiten der Selbstaufwertung beispielsweise durch Nationalismus. Auch rassistische Vorurteile erfüllen diesen Zweck.

Die Höherbewertung der eigenen Person durch die nationale Zugehörigkeit geht aber zu Lasten von Minderheiten und Personen anderer Nationalität oder Herkunft. Die Abwertung politischer Eliten, ist ebenfalls ein Teil antidemokratischer Propaganda. Diese Abwertung zielt auf das Gefühl von Selbstwirksamkeit einerseits und Schuldzuweisung für eigene Missstände anderseits.

Porträtfoto von Prof. Dr. Walther

Warum ist es wichtig, Demokratie in der Schule zu vermitteln?

Prof. Dr. Matthias Busch, Didaktik der Gesellschaftswissenschaften

„Demokraten fallen nicht vom Himmel“, wusste schon der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg. Demokratie bedarf einer Überlieferung von Generation zu Generation: Demokratische Kompetenzen, Werte und Prinzipien müssen gelernt werden.

Schule kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu, da Schulen als einzige zentrale Instanz der Sozialisation alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen oder familiären Herkunft erreicht. In ihr wird über, durch und für die Demokratie gelernt: In einem sicheren Raum können Lernende demokratische Beteiligung erproben und Selbstwirksamkeit erleben. Im fachlichen und fachübergreifenden Lernen können Vertrauen in demokratische Werte und Partizipationsbereitschaft gefördert werden. Ebenso werden wichtige Einsichten in demokratische Verfahren und Herausforderungen gewonnen und eigene Interessen reflektiert.

Dabei sichert Demokratiebildung nicht nur die Zukunft der Demokratie, sondern sie entspricht auch dem grundlegenden Menschenbild demokratischer Gesellschaften: Mündigkeit setzt die Fähigkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstbestimmung voraus. Um dem gerecht zu werden, sind Schulen durch die UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet, Lernende an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen.

Selbstverständlich können Schülerinnen und Schüler nicht in allen Fragen mitbestimmen. Schule ist keine basisdemokratische Organisation. Hierarchien und Machtasymmetrien sind aber nicht per se undemokratisch. Werden entsprechende Verhältnisse transparent gemacht und ihre demokratische Legitimation und Veränderlichkeit reflektiert, kann ein angemessenes Verständnis von moderner Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wachsen.

Demokratiebildung ist deshalb eine gesetzliche Verpflichtung von Schule und Unterricht und eine anspruchsvolle Qualifikationsaufgabe der Lehramtsbildung.

Porträtfoto von Prof. Busch