Genau das aber gelang Germanistik-Professorin Claudine Moulin mit ihrem erstmals an der Universität Trier angebotenen Seminar. Der Forschergeist der Master-Studierenden wurde schließlich auch belohnt.
Per Zufall war Claudine Moulin in einem Antiquariat auf erschwingliche Fragmente gestoßen. Sie stammen aus einer frühneuzeitlichen Druckausgabe des vielfach aufgelegten Kreuterbuchs von Adam Lonicer (1528-1586). Das beliebte Werk wurde erstmals im Jahr 1557 in Frankfurt/Main gedruckt und vielfach bis weit ins 18. Jahrhundert neu aufgelegt. Die Dozentin kaufte die sprachhistorisch wertvollen Fragmente auf und ließ ihre Studierenden daran arbeiten. Es zeigte sich bald, dass sie nicht die ersten waren, die sich mit dem betreffenden Exemplar auseinandergesetzt hatten.
Am Rand und zwischen den Zeilen des frühneuhochdeutschen Textes des Druckes hat ein früher Benutzer Notizen hinterlassen. Die Studierenden fanden heraus, dass er seine Anmerkungen nicht in Deutsch, sondern in Tschechisch schrieb. Sowohl die Buchstabenformen und die Tintenbeschaffenheit als auch der sprachliche Befund legen nahe, dass er Anfang des 17. Jahrhunderts in einem zweisprachigen Gebiet lebte. Später, vermutlich im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat ein weiterer Benutzer Spuren mit einem Bleistift hinterlassen. In kaum noch lesbarer, dünner Schrift versuchte er oder sie, die fremdsprachigen Notizen des Vorbesitzers zu entziffern und zu verstehen.
„Aus sprach- und kulturhistorischer Sicht sind dies sehr interessante Entdeckungen, denn sie geben unmittelbaren Einblick in Textrezeption und Sprachkontaktsituationen der Frühen Neuzeit. Außerdem verraten solche sekundären Benutzerspuren uns viel über die „Biografie“ von Büchern, ihre Verbreitung, Benutzung und wie Information im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit verarbeitet und weitergegeben wurde“, stellt Claudine Moulin den wissenschaftlichen Wert dieser Recherchen heraus. Insbesondere der letzte Punkt stellt einen lohnenswerten Untersuchungsbereich dar, dem an der Universität Trier zurzeit auch am Trierer Zentrum für Mediävistik (TZM) nachgegangen wird.
Die Textgattung Garten- und Kräuterbuch ist für die historische Linguistik eine reiche Quelle, denn sie begleitet die Überlieferung des Deutschen seit ihren Anfängen. „Wir können daraus viele Erkenntnisse beispielsweise über die Entwicklung der Textsorte, des Text-Bildverhältnisses, über Dialekte, über Übersetzungskulturen oder über lexikalische Innovationen gewinnen“, so Claudine Moulin.
Die Studierenden erfuhren in dem praxisnahen Seminar auch viel über das historische Buchwesen und die Geschichte des Buchdrucks. Sie lernten etwa, aus den verwendeten Materialien, der Buchanlage und dem Layout – beispielsweise der Paginierung, Foliierung, der Gestaltung von Titelblättern oder der Kapitel-Einteilung – die Entstehungszeit von Drucken zu ermitteln. „Es war vom ersten Tag an faszinierend herauszufinden, wie Sprache früher war und wie sie sich entwickelt hat“, fühlte sich Studentin Carolin Geib von den Blättern in den Bann gezogen. „Wir sind in diesem Seminar zu Forschern geworden. An 500 Jahre alten Drucken zu arbeiten, hat uns sehr gefesselt. So etwas Außergewöhnliches hat man nicht in jedem Seminar“, ergänzten die Studentinnen Maria Backes und Jana Kockler.
Sollte Claudine Moulin das Seminar noch einmal in dieser Form anbieten wollen, muss sie auf einen weiteren Zufallsfund von (erschwinglichen) historischen Drucken hoffen. Die Blätter aus Lonicers Kreuterbuch dürfen alle Seminar-Teilnehmerinnen behalten - als Erinnerung und auch zum Weiterforschen.
Kontakt
Prof. Dr. Claudine Moulin
Germanistik
E-Mail: moulin@uni-trier.de
Tel. 0651 201-2305
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