Ukraine-Krieg – eine politikwissenschaftliche Analyse
Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass Russland einen Krieg in der Ukraine angefangen hat? Vor allem aus pro-russischen Kreisen wird als Grund angeführt, der Westen hätte sich territorial zu sehr an Russland angenähert und Russland provoziert. Der Trierer Politikwissenschaftler Prof. Dr. Manuel Fröhlich hält dies nicht für stichhaltig: „Mich überzeugt nicht, dass Russland vorgibt, auf eine Bedrohung seiner Sicherheit zu reagieren. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine stand nicht auf der Tagesordnung des Bündnisses. Auch Präsident Selensky hatte einen Verzicht auf etwaige Mitgliedschaftsanträge kurz vor dem Angriff auf sein Land zur Disposition gestellt.“ Auch deshalb warnt der Inhaber der Professur für Internationale Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Trier davor, den Krieg als Ausdruck eines Ost-West-Konflikts zu verstehen. „Die Aggression Russlands stellt fundamentale Prinzipien des Völkerrechts und der Sicherheitsordnung der Charta der Vereinten Nationen in Frage. Wer, auch angesichts der Art und Weise der russischen Kriegsführung, von einem Ost-West-Konflikt spricht, folgt bereits ein Stück weit der russischen Propaganda. Dies ist ein Krieg, in dem es um die Grundprinzipien der Weltordnung geht.“
Das sei von der überwältigenden Mehrheit der Staaten weltweit auch so anerkannt worden, wie zuletzt auch in der Resolution der eigens einberufenen „Notfall“-Generalversammlung, bei der sich 143 Staaten für die Wahrung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine ausgesprochen und Russlands Absichten zur widerrechtlichen Annexion von Teilen des Landes verurteilt haben. Betrachtet man, wer sich gegen Russland und seinen Angriffskrieg positioniert hat, folge dies auch nicht dem unterstellten Ost-West-Konflikt. Das Lager der Russland-Unterstützer war mit Belarus, Syrien, Nicaragua und Nordkorea vollkommen isoliert. In Europa hat sich beispielsweise auch das traditionell Russland verbundene Serbien gegen die Aggression und Annexion gestellt. Dass hier globale Standards verletzt wurden, zeige auch die flammende Rede des kenianischen Vertreters im UN-Sicherheitsrat: Das Verhalten Russlands erinnere an den Kolonialismus früherer Zeiten, unter dem Afrika zu leiden hatte.
Russland kann mittels seiner Veto-Position den Sicherheitsrat, als das eigentlich zuständige Gremium bei Bedrohungen von Weltfrieden und internationaler Sicherheit, blockieren. Die Mitgliedsstaaten der UNO nutzen mit der „Notfall“-Sondersitzung aber seit März ein Format, das zuerst im Korea-Krieg und der Suez-Krise erprobt wurde, als der Rat durch Veto-Blockaden seiner Verantwortung nicht nachgekommen war. Erst das elfte Mal in seiner mehr als 75-jährigen Geschichte kam das Gremium in dieser Form zusammen. Jedoch ist das Votum – anders als bei Resolutionen des UN-Sicherheitsrates – völkerrechtlich nicht bindend. Zum Bild gehört auch, dass wichtige Staaten wie China und Indien sich bei diesen Abstimmungen teilweise enthalten haben.
Jenseits solcher Positionierungen stellt sich die Frage, was die UNO noch mehr tun kann, um der russischen Aggression entgegenzutreten und den Krieg zu beenden. Gerade UN-Generalsekretär António Guterres wurde vorgeworfen, zu zögerlich zu handeln. Fröhlich kann diese Kritik nachvollziehen: „Zu Beginn des Krieges war Guterres kaum wahrnehmbar. Er betreibt mittlerweile jedoch auch viel stille Diplomatie. Verhandlungen und Gespräche werden nicht an die große Glocke gehängt.“ Bei der Evakuierung aus Mariupol und auch bei der Verhandlung des Weizenabkommens, das der Ukraine Getreideausfuhren über den Seeweg ermöglicht, habe er jedoch eine wichtige Rolle gespielt. Dass dieses Abkommen zuletzt wieder von Russland in Frage gestellt worden sei, zeige erneut die Zerbrechlichkeit solcher Bemühungen.
Fröhlich sieht hier auch eine stärker operative Rolle für die „Notstands“-Generalversammlung. Diese könnte sich noch viel unmittelbarer in solche Dinge wie die Gewährleistung der global relevanten Weizenlieferungen oder die Sicherheit bedrohter Atomkraftwerke einschalten. Ein Blick zurück in die Geschichte zeige, dass etwa auch die „Erfindung“ der so genannten Blauhelmtruppen letztlich auf eine solche Initiative der Mitgliedstaaten zurückging, die sich zu gemeinsamem Handeln entschlossen hatten und dem Generalsekretär den Rücken stärkten. Fröhlich: „Der russische Krieg in der Ukraine ist insofern auch ein Angriff auf die Weltorganisation der Vereinten Nationen und legt einige ihrer Schwächen schonungslos offen.“ Eine solche Situation habe gelegentlich dazu geführt, dass Improvisation und Reformen zu neuen Handlungsmöglichkeiten führten. Auch diesbezüglich seien die weltpolitischen Folgen des Krieges in der Ukraine noch nicht absehbar.
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Prof. Dr. Manuel Fröhlich
Internationale Beziehungen und Außenpolitik
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