Teltschik: Historische Chancen versäumt

Mit Uni-Wein bedankten sich Helmut Schröer (links), Vorsitzender des Freundeskreises Trierer Universität, der die Gastprofessur stiftet, und Universitätspräsident Prof. Dr. Michael Jäckel (rechts) bei Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik.

„Haben wir die Chancen nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konfliktes in den letzten 25 Jahren versäumt oder genutzt?“ Diese zentrale Frage stellte Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik im abschließenden Vortrag seiner Gastprofessur an der Universität Trier. Seine Antwort knapp zusammengefasst: Viele  historische Chancen vertan, nur wenige genutzt. Statt die erfolgreiche Vertrauensbildung in der Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl fortzusetzen, seien viele Brücken zwischen Ost und West niedergerissen worden. Eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung ohne Einbindung Russlands sei aber eine Utopie.

Noch einmal führte Teltschik seinen Zuhörern eindringlich vor Augen, welche Wunder sich seit 1989/90 auf der Bühne der Weltpolitik abgespielt haben. Ohne dass ein einziger Schuss gefallen wäre, veränderten fünf revolutionäre Ereignisse die Welt: die deutsche Wiedervereinigung, das Ende des Warschauer Paktes, die Auflösung der Sowjetunion, die Aufweichung des bipolaren Weltsystems von Kapitalismus und Kommunismus, die Globalisierung der Weltwirtschaft und schließlich die digitale Revolution.    

Als die KSZE-Staaten im November 1990 die „Pariser Charta für ein neues Europa“ verabschiedeten, hätten sie erstmals die Chance auf eine gesamteuropäische Friedensstrategie in Händen gehalten. Teltschik kritisiert die folgenden Politiker-Generationen, nicht mit den Werkzeugen dieser Charta an einem gemeinsamen europäischen Haus gebaut zu haben.

Was lief schief? Teltschik outete sich in seinen beinahe zweieinhalbstündigen Ausführungen einmal mehr als „Russland-Versteher“. Politische Versäumnisse weist er vornehmlich der westlichen Seite zu. Der Westen verkenne die auch historisch bedingten existenziellen Sicherheitsinteressen Russlands und versteife sich im Dialog eindimensional auf das Thema Menschenrechte. Während  Kohls Kanzlerschaft sei eine Sicherheitspartnerschaft zwischen NATO und Russland aufgebut worden. „In der NATO, der EU und der Bundesregierung wurde auch danach oft über Partnerschaften mit Russland gesprochen, aber es ist wenig passiert“, bemängelt Teltschik.

Der Gastprofessor wähnt Russland an einem Scheideweg. Putin entwerfe für sein Land eine eigene Identität und betone den Nationalismus. „Das Verhältnis zum Westen entwickelt sich von Kooperation hin zu neuem Wettbewerb und vielleicht auch zu neuer Konfrontation. Russland wendet sich China und Asien zu und will seine Einflusssphären absichern.“ Teltschik macht sich stark für neue Partnerschafts-Initiativen. „Hier hat Deutschland eine Führungsrolle. Wenn wir uns nicht um Russland kümmern, tut es niemand in Europa.“

Zum Ukraine-Konflikt, so der Gastprofessor, habe man ihm anvertraut, dass Russland schon wegen der hohen Kosten kein Interesse an einer Annexion der Ost-Ukraine habe. Teltschik glaubt nicht daran, dass der frühere Status wiederhergestellt werden kann. Ein Lösungsmodell sieht er in einer föderalen Struktur.

Die aktuelle weltpolitische Lage ist nach Teltschiks Auffassung von Globalisierung dominiert. So wie territoriale Grenzen, verschwimmen auch die Grenzen zwischen Krieg und Frieden, was in Cyber War oder der Militarisierung des Weltraums evident werde. Umso mehr wundert sich der Referent, dass vor dem Hintergrund von weltumspannenden Fragen nach seinem Eindruck China als einziges Land eine globale Strategie entwickelt habe.

Der Rückblick auf das vergangene Vierteljahrhundert lässt auch Teltschik vor vielen Zukunftsfragen ratlos zurück: Wie geht es mit Europa weiter? Wohin marschiert Russland? Welche Rolle spielt künftig die NATO? Nicht nur er verlangt Antworten von der Politik.