„Wir wollen verstehen, an welchem Punkt die Repräsentation nicht funktioniert“
Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass viele Versprechen, mit denen Parteien Stimmen für sich gewinnen wollen, nach der Wahl nicht gehalten werden. In dem Kooperationsprojekt „Unequal mandate responsiveness? (UNEQUALMAND)“ wollen Junior-Professorin Theres Matthieß und zwei Kolleginnen untersuchen, welche Art von Wahlversprechen gegeben, welche Gruppen damit angesprochen werden und wie die Gruppen darauf reagieren. In der Studie werden Wahlversprechen in Deutschland und Frankreich analysiert.
Frau Matthieß, laut Projektbeschreibung wollen Sie „politische (Un-)Gleichheiten mit Blick auf Gruppenrepräsentation und die Umsetzung von Wahlversprechen“ untersuchen. Wie gehen Sie dabei vor?
In dem Projekt untersuchen wir, wie ungleich die politische Repräsentation unterschiedlicher Gruppen auf verschiedenen Stufen des politischen Prozesses ist. Wir schauen uns diese Ungleichheit anhand von Wahlversprechen, die für bestimmte Gruppen gemacht werden, und deren (Nicht-)Erfüllung in Frankreich und Deutschland über einen Zeitraum von 25 Jahren, über sieben Legislaturperioden, an. Wir gehen davon aus, dass die politische Macht und das soziale Image von Gruppen eine wichtige Rolle bei der Formulierung und Umsetzung von Versprechen spielen. Berücksichtigt werden alle Gruppen, die von den Parteien (Deutschland) und Präsidentschaftskandidat:innen (Frankreich) in den Wahlprogrammen direkt oder indirekt sowie in positiver oder negativer Weise adressiert werden.
Wie lassen sich die Gruppen beschreiben oder unterscheiden?
Eine erste Analyse zeigt bereits, dass in den Wahlprogrammen diverse Gruppen mit unterschiedlichen Merkmalen angesprochen werden. Diese Gruppen unterscheiden sich etwa in Bezug auf den Beruf, den familiären und sozialen Status, das Alter, das Geschlecht, den Migrationshintergrund, aber auch den Wohnort (z.B. Bewohner:innen der „Banlieues“ in Frankreich) oder den Lebensstil (z. B. Autofahrer:innen in Deutschland). Ein Ziel des Projekts ist es, durch dieses induktive Vorgehen eine Typologie von Zielgruppen zu generieren.
Werden auch Gruppen, denen keine Wahlversprechen gemacht werden, in der Untersuchung erfasst?
Tatsächlich könnten Gruppen, die absolut nie in den Wahlprogrammen adressiert werden, unter unseren Radar fallen. Darüber müssen wir reflektieren, da stark benachteiligte Gruppen daran scheitern könnten, überhaupt von politischen Akteuren wahrgenommen zu werden. Der Zeit- und Ländervergleich erlaubt aber, Veränderungen und Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zu erfassen. Wurden etwa Gruppen vor 20 Jahren adressiert, die heute keine Rolle mehr spielen? Die Liste der bereits identifizierten Gruppen ist sehr lang und vielfältig. Wir konnten schon feststellen, dass viele der üblicherweise politisch unterrepräsentierten Gruppen in Wahlversprechen regelmäßig adressiert werden – auch wenn es hier eindeutige Unterschiede zwischen den Parteien/Kandidat:innen gibt. Das ist z.B. der Fall für Frauen, Migrant:innen, Arme oder sexuelle Minderheiten. Eine Vermutung ist, dass für marginalisierte Gruppen zwar Versprechen gemacht, diese aber nicht zwingend umgesetzt werden. Zu verstehen, an welchem Punkt die Repräsentation bestimmter Gruppen nicht funktioniert, ist eine Hauptmotivation von UNEQUALMAND.
Werden Sie Gruppenzugehörigkeiten politischer Akteure, die für Wahlversprechen verantwortlich sind, in die Betrachtung einbeziehen?
Das ist eine spannende Frage, die zwar nicht im Hauptfokus von UNEQUALMAND steht, aber auch Berücksichtigung finden wird. Unser analytisches Interesse richtet sich vordergründig auf Wahlprogramme, die von Kollektivakteur:innen (Parteien, bzw. das Team der Präsidentschaftskandidat:innen) erstellt werden und welchen Einfluss die politische Macht und das soziale Image einer Gruppe auf die Formulierung und Umsetzung von Wahlversprechen hat. Wir werden die Wahlprogramme der unterschiedlichen Parteien und Präsidentschaftskandidat:innen aber miteinander vergleichen.
Gibt es hierzu schon Erkenntnisse?
Uns ist zum Beispiel schon aufgefallen, dass in Deutschland die Parteien SPD und Grüne deutlich mehr Versprechen an Frauen richten als FDP und CDU/CSU. Neben der Ideologie könnte eine wichtige Erklärungsvariable auch die Zusammensetzung der Parteien sein (Stichwort „deskriptive Repräsentation“). Wie genau es zur Formulierung und Umsetzung gruppenspezifischer Versprechen kommt, werden wir uns in Einzelfallstudien genauer anschauen. Robin Rentrop, der Doktorand im Projekt ist, analysiert in seiner Dissertation, wie junge Menschen im Parlament durch einzelne Abgeordnete repräsentiert werden – welche Rolle das eigene Alter der Abgeordneten dabei spielt, wird er sich genauer anschauen.
Kennen Sie markante Beispiele aus der Vergangenheit, in denen bestimmten Gruppen auffallend viele Versprechen gemacht wurden oder andere, denen die Erfüllung von Versprechen häufig vorenthalten wurde?
Familien, Unternehmer:innen und Beschäftigte sind die häufigsten Zielgruppen in beiden Ländern. In Deutschland haben wir die Erfüllung der Versprechen noch nicht vollständig ausgewertet und daher steht der Gruppenvergleich noch aus. In Frankreich konnten wir bereits starke Kontraste zwischen Gruppen feststellen – allerdings variiert das stark nach Partei. Zum Beispiel wurden Wahlversprechen an Arme und Frauen deutlich besser von der Parti Socialiste als von konservativen Regierungen eingehalten.
Werden Sie auch Prozesse beobachten, die Wahlversprechen auslösen, wie beispielsweise Lobbyarbeit?
Wir erwarten, dass politische Macht, die sich u.a. in Form von Lobbyarbeit ausdrückt, ein zentraler Kausalmechanismus in der Beziehung zwischen sozialen Gruppen und politischen Akteuren ist. Zum einen wollen wir Daten zur Intensität der Interessensvertretung aller Gruppen sammeln, die in Wahlversprechen adressiert werden. Zum anderen werden wir Fallstudien zu einzelnen Wahlversprechen durchführen, in denen dieser Aspekt eine wichtige Rolle spielen wird. Wir erwarten, dass sich erfolgreiche Lobbyarbeit besonders in der Umsetzung von Wahlversprechen, die für die jeweilige Gruppe von Vorteil sind, ausdrückt.
Haben Sie über die Quantität hinaus auch die Möglichkeit, die Qualität von Wahlversprechen zu bewerten, also etwa die Höhe oder den Umfang von versprochenen Zuwendungen oder Vergünstigungen?
Wir kodieren für alle Versprechen mehrere Merkmale. Unter anderem werden wir bestimmen, ob es sich bei dem Versprechen um eine Politikveränderung oder eine Wahrung des Status Quo („weiter so“) handelt. Letztere sind für politisch Verantwortliche weitaus einfacher umzusetzen, da es oft keine neue Einigung braucht. Daneben kodieren wir auch, wie konkret die Zusagen sind, ob es sich also um „harte Versprechen“ oder „weiche Versprechen“ handelt. Ein Beispiel für ein hartes Versprechen, das an Eltern gerichtet ist, wäre etwa die Erhöhung des Kindergeldes auf 200 Euro (SPD-Wahlprogramm 2002). Wohingegen ein weiches Versprechen zwar eine Erhöhung des Kindergelds versprechen würde, aber offenlässt, in welchem Umfang. Die Umsetzung von weichen Versprechen lässt sich weniger gut überprüfen, weil der Interpretationsspielraum größer ist. Politische Akteure nutzen dies oft auch strategisch, um sich nicht festlegen zu lassen.
Haben Sie bereits eine Vermutung, welche Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland im Hinblick auf den „politischen Umgang“ mit Gruppen bestehen?
Beide Länder gleichen sich in vielen Aspekten (zum Beispiel wirtschaftliche Prosperität), aber hinsichtlich der Institutionen, des Parteiensystems und der Gruppenorganisation gibt es entscheidende Differenzen. Der erste Teil des Projekts zielt darauf ab, Hypothesen zu testen – hinsichtlich der Formulierung und Umsetzung Zielgruppen-orientierter Versprechen, aber auch in Bezug auf die Wahrnehmungen und Reaktion der Wähler:innen auf gruppenspezifische Politiken. Wenn wir in beiden Ländern ähnliche Muster finden, dann erhöht das die externe Validität der Befunde, das heißt wir haben eine größere Sicherheit, dass es die vermuteten kausalen Zusammenhänge tatsächlich gibt und dass diese in unterschiedlichen Kontexten wirken. Im zweiten Teil des Projekts wollen wir uns in Fallstudien die nationalen Besonderheiten genauer anschauen. Wir gehen davon aus, dass sich aufgrund der verschiedenen Systeme Unterschiede in der Repräsentation von Gruppen beobachten lassen.
Wie wirken sich diese Unterschiede aus?
Deutschland lässt sich als Konsensdemokratie mit (personalisiertem) Verhältniswahlrecht, Frankreich eher als Mehrheitsdemokratie einordnen. Politische Systeme mit Verhältniswahl begünstigen die Bildung von kleineren Parteien, die unterschiedliche (marginalisierte) Gruppen vertreten und neue Themen, die die etablierten Parteien herausfordern, aufbringen können. Aber sie sind auch davon abhängig, mit anderen Parteien Koalitionen zu bilden, um zu regieren. Ein weiterer Unterschied zwischen den Ländern liegt in der politischen Verankerung rechtspopulistischer Parteien. In Frankreich ist der „Front National“ (heute: „Rassemblement National“) schon lange Teil des politischen Spektrums. In Deutschland hat sich mit der 2013 gegründeten AfD vergleichsweise spät eine auf Bundesebene erfolgreiche Partei rechts der konservativen CDU/CSU etabliert. Wir gehen auch davon aus, dass sich hieraus unterschiedliche Dynamiken ergeben, besonders wenn es um die Repräsentation von marginalisierten Gruppen (z.B. Menschen mit Migrationshintergrund) geht.
Würden Sie zustimmen, dass eine Bestätigung Ihrer Haupthypothese einer fundamentalen Kritik an politisch Verantwortlichen und am politischen System gleichkommt?
Jein. Zunächst geht es uns darum, zu verstehen, wie sich das politische Angebot entwickelt hat. Wir vermuten, dass es zu einer Partikularisierung gekommen ist, das heißt dass politische Akteure über die Jahre immer kleinteiligere Angebote machen und damit immer speziellere (Unter-)Gruppen adressieren. Das kann verschiedene Implikationen haben. Ein grundlegendes Problem ergibt sich erst dann, wenn bestimmte Gruppen systematisch ausgeschlossen werden und keine Chance haben, am politischen Prozess teilzunehmen und repräsentiert zu werden. Sollten wir zum Beispiel beobachten, dass für vulnerable Gruppen zwar Wahlversprechen gemacht werden, aber diese systematisch nicht eingehalten werden, dann wäre dies ein starker Hinweis auf ein Missverhältnis in der Repräsentation. Dies würde bedeuten, dass Wähler:innen zwar mit Versprechen an die Wahlurnen gelockt werden, sie letztendlich aber nichts erhalten.
Ist vorgesehen, Optionen aufzeigen, wie Fehlentwicklungen bei der Gruppenrepräsentation entgegengewirkt werden kann?
Das Projekt ist nicht nur von wissenschaftlicher, sondern auch von größter gesellschaftlicher Relevanz. Darum suchen wir aktiv den Austausch über den „wissenschaftlichen Elfenbeinturm“ hinaus. Dabei geht es weniger darum, dass wir eine Generallösung für die Repräsentationsproblematik anbieten, sondern in den offenen Austausch mit der Öffentlichkeit und politisch Verantwortlichen kommen, um Impulse zu geben und gemeinsam über Lösungen zu diskutieren.
Das Projekt
„Unequal mandate responsiveness?“ (UNEQUALMAND) ist ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der französischen Agence Nationale de la Recherche (ANR) gefördertes Projekt. Es wird in Kooperation von den Projektleiterinnen Junior-Professorin Theres Matthieß von der Universität Trier, Dr. Elisa Deiss-Helbig von der Universität Stuttgart und Dr. Isabelle Guinaudeau von der Sciences Po Paris durchgeführt. Das Fördervolumen beläuft sich auf rund 500.000 Euro, die Projektlaufzeit erstreckt sich über drei Jahre von 2022 bis 2025.
Kontakt
JProf. Dr. Theres Matthieß
Politikwissenschaft | Empirische Demokratieforschung
E-Mail: matthiess@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-2133