Bei der EU-Wahl haben europaskeptische Parteien deutlich zugelegt. Wie ist die Stimmung in den Mitgliedländern? Und wo bewegen wir uns in den kommenden fünf Jahren hin?
„Wenn wir Angst um Europa haben, sollten wir nicht nur nach Brüssel schauen, sondern auch in die einzelnen Mitgliedsstaaten“, ist sich Joachim Schild, Politikwissenschaftsprofessor der Universität Trier, sicher. Denn noch entscheidender für die weitere Entwicklung Europas als das EU-Wahlergebnis sei, wie sich die Politik in den Nationalstaaten entwickelt. Gerade wenn in den Regierungen der europäischen Schwergewichte – wie Frankreich – nationalistische Parteien die Führung übernehmen würden, ist die europäische Integration hochgradig gefährdet. Bereits in der Vergangenheit habe man gesehen, welche Schwierigkeiten Blockaden einzelner Mitgliedstaaten bereiten können. Als Beispiel nennt Schild Viktor Orbán in Ungarn, der „die EU von innen aushöhlt“. Das wird erst dadurch möglich, dass wichtige Entscheidungen von allen Mitgliedstaaten einstimmig getroffen werden müssen. „Europa steht sich selbst mit der Status-quo-Orientierung und der Einstimmigkeit in der Einstimmigkeit im Weg“, fasst der Trierer Politikwissenschaftler zusammen.
Mit den deutlichen Stimmenzuwächsen bei der Europawahl von Rechtsaußen-Parteien wie der deutschen AfD oder des französischen Rassemblement National haben europaskeptische Parteien an Sitzen gewonnen. Doch Schild möchte nicht alle Rechtsaußen-Parteien über einen Kamm scheren. Vielmehr plädiert er für eine genauere Betrachtung. Während man mit einigen Parteien bei gewissen Themen noch in einen politischen Diskurs gehen kann, behindern andere mit ihrer nationalistischen Politik die EU.
Vier Bewährungsproben für die EU
„Entscheidend für die Entwicklung Europas wird sein, wie viel Geschlossenheit aufgebracht werden kann. Europa steht vor großen Herausforderungen“, sagt der Trierer EU-Experte. Zwar gab es in der Geschichte der EU schon einige Themen wie bei der Positionierung zum Irakkrieg 2003, bei denen große Uneinigkeit geherrscht hat, dennoch könnten die anstehenden Herausforderungen vielleicht sogar die größten sein. Schild führt hier vier „Bewährungsproben“ für die EU an: Bedeutend sei, wie sich die EU in Bezug auf den Krieg in der Ukraine weiter verhalte. Aber auch wirtschaftlich müsse die EU in den nächsten Jahren Wachstumskräfte freisetzen, um der Konkurrenz aus den dynamischeren Volkswirtschaften der USA und Chinas standhalten zu können. Eng damit verknüpft ist, wie sie die Strategie bei der Dekarbonisierung der Industrie gestaltet wird. „Hierbei dürfen nicht zu viele Flurschäden entstehen“, meint Schild. Außerdem müsse Europa lernen, auch verteidigungspolitisch auf eigenen Füßen zu stehen, falls eine zweite Trump-Regierung die Beistandszusage im Nato-Bündnis aufkündigen würde.
„Für viele junge Menschen ist Europa selbstverständlich und sie gelten eher als europafreundlich. Das Paradox ist, dass trotzdem viele bei der EU-Wahl Rechtsaußen-Parteien gewählt haben.“ Einen möglichen Grund sieht Schild in Zukunftsängsten der jüngeren Generation, für die es nicht mehr gewiss sei, dass sie den sozialen Aufstieg erleben. „Die Migrationspolitik ist zudem ein zentrales Mobilisierungsthema. Wenn das Problem unkontrollierter, ungesteuerter Migration nicht gelöst wird, wird es weiter zu einem Erstarken der Rechtsaußen-Parteien kommen“, analysiert Schild.
Europaregionen und Abschottungspolitik
Selbst in Grenzgebieten wie der Großregion Wallonie/Luxemburg/Lothringen/Saarland/Rheinland-Pfalz, die sich selbst gerne als europafreundlich bezeichnen, konnten Rechtsaußen-Parteien Wahlerfolge feiern. Und das obwohl es zahlreiche Partnerschaften beispielsweise zwischen Städten und eine große Zahl an Grenzgängerinnen und Grenzgängern gibt, die täglich zur Arbeit ins Nachbarland fahren. „Das stärkt natürlich die Europaverbundenheit, aber nichtsdestotrotz sind die Menschen auch in Grenzregionen nicht vor der Idee gefeit, dass in gewissen Maßen eine Abschottungspolitik betrieben werden müsse, um den eigenen Wohlstand zu erhalten.“
Für die Legislaturperiode des neuen EU-Parlaments ist Joachim Schild dennoch zuversichtlich: „Das Wahlergebnis hatte etwas stabilisierendes. Die Wahl hat insgesamt zu einer soliden parlamentarischen Mehrheit von Parteien geführt, welche die europäische Idee tragen: Die Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen.“
Stimmungsbild in EU-Mitgliedsstaaten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Trier mit persönlichen Verbindungen in andere EU-Länder berichten über die Wahl und europafreundliche wie -kritische Meinungen.
Italien
Dass Italien sich schon lange fest in Europa verankert sieht, steht außer Frage. Schließlich gehörte Italien zusammen mit Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten zu den Gründerstaaten des europäischen Wirtschaftsraums. Gleichwohl hegen seine Bürgerinnen und Bürger – wie in einer pluralistischen Gesellschaft kaum anders zu erwarten – durchaus verschiedene Wünsche und Erwartungen an die weitere Entwicklung Europas. Man debattiert seine unterschiedlichen Ansichten und Positionen ausgiebig im Kollegen- und Freundeskreis, oftmals auch innerhalb der Familien, ohne sich am Ende grundsätzlich voneinander zu distanzieren.
In Italien war man es schon immer gewohnt, sich mit unterschiedlichen Kulturen auszutauschen und sich mit verschiedenen Meinungen auseinanderzusetzen. Ein Grund dafür mag sicherlich auch die geografische Lage der italienischen Halbinsel sein, wo es seit jeher vor allem entlang der langen Küstenlinien eine beständige Begegnung zahlreicher Kulturen gab.
Kurz gesagt, Europa und die Wahlen zum EU-Parlament waren in den vergangenen Monaten selbstverständlich nicht nur in den Medien, sondern auch auf den Straßen und im öffentlichen Leben ein rege und demokratisch diskutiertes Thema.
Dr. Mara Onasch (Italienische Philologie und Geschäftsführerin des Italienzentrum)
Frankreich
Der rechtspopulistische und europakritische Rassemblement national (RN) geht vorherigen Prognosen entsprechend als klarer Sieger der Wahlen zum europäischen Parlament in Frankreich hervor. Die Liste des RN, die von dem 28-jährigen Parteivorsitzenden Jordan Bardella angeführt wurde, erhielt, bei einer Wahlbeteiligung von etwas über 51 %, rund 31 % der abgegebenen Stimmen und somit doppelt so viel wie die Liste der Partei Renaissance von Staatspräsident Emmanuel Macron (14,6 %).
Journalisten sprachen nach ersten Hochrechnungen von einem „victoire écrasante“ („Erdrutschsieg“) der rechtspopulistischen RN und einem „désastre électoral“ („Wahldebakel“) für Präsident Macron und seiner europafreundlichen Politik. Obwohl diese Niederlage erwartbar war („défaite annoncée“), stellt diese dennoch einen Wendepunkt („tournant du quinquennat“) in Macrons Präsidentschaft dar.
Nur einige Minuten nach den ersten Hochrechnungen sorgte die Ankündigung des Präsidenten nach Art. 12 der Verfassung das Parlament aufzulösen und schon Ende Juni Neuwahlen abzuhalten sowohl bei den Journalisten und Experten als auch bei den politischen Gegnern für Verblüffung. Präsident Macron begründete diesen Schritt damit, dass er nach dieser Wahlniederlage, den obersten Souverän neu über die zukünftige politische Richtung Frankreichs entscheiden lassen will. Er betonte dabei, dass über 40 Prozent der Stimmen europaskeptische Parteien erhielten. Dahinter steckt wohl die Überzeugung, dass bei dem herrschenden Mehrheitswahlreicht sich die gemäßigten Parteien im zweiten Wahlgang zusammenschließen und somit die radikalen Parteien nur wenige Sitze in der Assemblée nationale erringen werden. Allerdings interpretieren politische Beobachter diese Entscheidung als eine waghalsige politische Wette, die ebenso gut eine tiefe politische Krise auslösen kann.
Dr. Marie-Anne Berron (Französisch-Dozentin)
Spanien
Mit fast 48 Millionen Einwohnern und 38 Millionen Wahlberechtigten hat Spanien bei den Europawahlen knapp 18,5 Millionen Stimmen abgegeben. Daraus ergeben sich die 61 Sitze. Der in ganz Europa festgestellte Rechtsruck machte sich auch in Spanien bemerkbar, mit einer Aufteilung zwischen der Mitte-Rechts (+9 Sitze) und der Rechten (+2 Sitze). Diese Entwicklung ging nicht mit einem Zusammenbruch der linken und mitte-links Parteien einher (-2 Sitze), sondern mit dem Verschwinden der Mitte (-8 Sitze), wie es bereits bei den nationalen und regionalen Wahlen der letzten Jahre vorhergesagt wurde. Die Regionalisten und Separatisten, die sich über das linke und rechte Spektrum der spanischen politischen Landschaft verteilen, scheinen das Ende der internationalen Aufmerksamkeit der letzten Jahre zu spüren bekommen zu haben (- 2 Sitze). Die den landesweiten Trends ähnelnden Ergebnisse hatten kaum Auswirkungen auf die nationale Politik. Eine Ausnahme bildete der Rücktritt der Vorsitzenden von SUMAR, Wahlbündnis aus 20 linken Parteien und kleinem Koalitionspartner der spanischen Regierung.
Dr. Javier Soage Otero (Romanistik – wissenschaftlicher Mitarbeiter)
Polen / Ungarn / Slowakei
Bei der Europawahl im Osten der EU konnten nationalistische, rechtsextreme und europaskeptische Parteien ihr prognostiziertes Ergebnis nicht erreichen und bleiben weit unter den Schätzungen. Dies gilt insbesondere für Polen, die Slowakei und Ungarn. Lediglich in Slowenien und Tschechien konnten zwei Parteien, die mit Orbáns Fidesz-Partei verbunden sind, Gewinne verzeichnen. Ansonsten ist das Bild überraschend und vielfältig.
Erstmals seit über einem Jahrzehnt liegt die Partei des neuen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk vor der nationalkonservativen PiS von Jarosław Kaczyński. Seit den Parlamentswahlen im Oktober 2023 konnte sich die proeuropäische Botschaft der Partei zunehmend gegen die europaskeptischen und antideutschen Erzählungen der PiS durchsetzen.
Die Europawahlen stellten für Donald Tusk und die von ihm geführte Regierung eine Art Test dar. Die Bürgerplattform hat diesen Test bestanden. Auf der anderen Seite erhielten die Regierungskoalitionsparteien weniger Unterstützung, was als Warnsignal gelesen werden kann.
Polen ist der fünftstärkste Mitgliedstaat und wird in der kommenden Mandatsperiode von 53 Abgeordneten vertreten. Die Wahlbeteiligung lag bei 41 % – sie war also hoch, vor allem in Anbetracht der EU-Wahlen zwischen 2004 und 2014, als sie unter 25 % blieb.
Bei den Wahlen in Ungarn musste die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán erstmals seit vielen Jahren erhebliche Verluste hinnehmen. In der Slowakei konnte sich eine progressive Partei deutlich gegen die regierende SMER-Partei des rechtsnationalistischen Premiers Robert Fico durchsetzen, auf den vor wenigen Wochen ein Attentat verübt worden war.
Łukasz Mateusz Grzesiak (Slavistik – Lehrkraft für besondere Aufgaben)
Bulgarien
Der NATO- und EU-Beitritt im Jahr 2007 wird in Bulgarien nach wie vor sehr positiv gesehen. Jüngst wurde beides im führenden, nationalen Nachrichtensender NOVA als Inbegriff „beständiger Prosperität“ und „Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Völker“ bewertet.
Unabhängig von der dreijährigen Regierungskrise bestätigten die EU-Wahlergebnisse die proeuropäische und proatlantische Orientierung Bulgariens. Eindeutige Sieger sind erneut die rechtsliberalen Parteien: GERB-SDS mit 24,7 %; DPS mit 17 %; PP-DB mit 14,3 %. Es gibt keine nennenswerte linksliberale Opposition (nur BSP mit 7,1 %).
Unabhängig von der enormen innerpolitischen Zerrissenheit bekennt sich Bulgarien nach wie vor zu Europa und zum Atlantischen Verteidigungsbündnis.
Dr. Rumjana Ivanova-Kiefer (Lehrbeauftragte für Bulgarisch)