An der Universität Trier forscht seit Kurzem ein Team der Geographie zu Gefängnissen. Es ist das einzige in Deutschland mit dem für das Fach doch eher besonderen Forschungsgebiet. Wie die humangeographische Perspektive nützlich sein kann.
„Man darf es sich nicht so vorstellen, dass ich die ganze Zeit in Gefängnisse gehe und dort Interviews oder beobachtende Studien durchführe. Viel Zeit verbringe ich auch mit der Analyse von Daten oder politischen Papieren“, beschreibt Jennifer Turner den Forschungsalltag. Turner hat die Professur für Kultur- und Politische Geographie an der Universität Trier inne. Das Team der Professur ist das einzige, das deutschlandweit zu Gefängnissen als Räumen forscht. Ursprünglich in Großbritannien geboren hat Turner den Forschungszweig vor vier Jahren vom United Kingdom mit in die Bundesrepublik gebracht. „Gefängnisse sind ganz normale Orte, an denen Menschen ihren Alltag verbringen: essen, schlafen und andere treffen.“ Die Erforschung von Räumen und deren Einfluss auf Personen, die in ihnen leben, ist seit jeher Gegenstand der Humangeographie. In den Gefängnissen wird Turner dennoch oft verwundert angeschaut: Geographische Forschung? „Die Inhaftierten sind Forschung gewohnt. Sie werden häufig gebeten, Fragebögen auszufüllen. Allerdings sind es meist soziologische oder kriminologische Forschende“, berichtet Turner. Das Interesse, an der Forschung mitzuwirken, ist bei Inhaftierten sowie Mitarbeitenden im Strafvollzug jedoch da. Die Hoffnung, dass Gefängnisse bessere Orte werden, schwingt wohl mit.
Ist das auch ein Forschungsziel von Turner? Gefängnisse räumlich zu optimieren? Es ist eine Frage, die zwei Lager kennt. Die einen vertreten die Position, Gefängnisse sollten abgeschafft werden. Die anderen plädieren dafür, Gefängnisse zu reformieren. Turner möchte sich nicht klar positionieren. „Ich bin der Meinung, dass es bessere Optionen als Gefängnisse gibt, aber momentan sehe ich keine anderen Lösungen, die gesellschaftlich tragfähig wären.“ Die Professur für Humangeographie an der Universität Trier will mit der Forschung dazu beitragen, dass Gefängnisse adäquater und effektiver werden.
Faszination Gefängnis
Nach dem Weg zu diesem außergewöhnlichen Thema gefragt, muss Turner schmunzeln. Fast entschuldigend sagt die Forschende, dass es ursprünglich weniger akademische Gründe waren. TV-Serien wie Prison Break waren es, die das Interesse geweckt haben. „Menschen finden Gefängnisse seit jeher faszinierend, bei mir war und ist das nicht anders. Man will wissen, was sich hinter den Mauern abspielt.“ Touristische Ziele wie Alcatraz in der Bucht von San Francisco sind Sinnbild für diese Faszination. Bei den meisten sei das Bild von Gefängnissen durch die Medien geprägt: Gefängnisse als Orte, in denen gedealt wird, es Gewalt gibt und Ausbruchspläne geschmiedet werden. Die Wirklichkeit wird eher von anderen Dingen bestimmt. „Die Gefängnismauern sind durchlässiger als viele denken. Die Strafvollzugsangestellten gehen täglich in Gefängnisse zur Arbeit, Besucherinnen und Besucher kommen, Inhaftierte im offenen Vollzug verlassen jeden Morgen das Gefängnis und kehren am Abend zurück.“ Auch dieses Durchschreiten der Mauer als Grenze ist Teil des theoretischen Konzepts der „carcerality“, das Turner entscheidend mitgeprägt hat. Im Deutschen lässt sich der Begriff mehr schlecht als recht mit dem an mittelalterliche Kerker erinnernden Wort „Karzeralität“ übersetzen.
Karzeralität beschreibt, wie Personen, die ein Verbrechen begangen haben, durch einen Akt der Grenzziehung aus der Gesellschaft entfernt werden, in dem sie innerhalb einer Grenze hinter Gittern gebracht werden. Das theoretische Konzept fasst jedoch Räumen der Inhaftierung, der Begrenzung, der Eingrenzung und des Einsperrens noch weiter. Es geht letztlich auch um Fragen der Macht und einer Politik der Kontrolle: Die Inhaftierten können als Machtlose verstanden werden, denen die Freiheit entzogen wurde. Jennifer Turner interessiert, welche räumlichen Erfahrungen die Inhaftierten machen. Wie nehmen sie den Blick aus ihrem Fenster wahr? Wie beschreiben sie ihre Zelle? Wie sind die Grünflächen in Gefängnissen? Welche Orte des Austausches gibt es mit anderen Gefangenen? Wie trägt das alles zur Resozialisierung bei? Zuletzt hat Turner viel zur Architektur von viktorianischen Gefängnissen geforscht (siehe Infokasten). Aber auch die Ausgrenzungserfahrungen von Frauen in Gefängnissen ist ein Thema, mit dem sich das Team der Professur beschäftigt. Vor allem Dr. Anna Schliehe forscht zu diesem Thema, das bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben ist. Dabei sind weibliche Inhaftierte besonders wichtig, weil viele Reformpläne an dieser relativ kleinen Gruppe erprobt werden, mit welcher vermeintlich leichter umzugehen ist. Ein weiteres Forschungsthema sind Angestellte im Justizvollzugsdienst, die zuvor beim Militär gearbeitet haben. Wie passen sie sich an die zivile Arbeit im Gefängnis an? Wie nehmen Kolleginnen und Kollegen sowie die Inhaftierten sie wahr?
Auf den ersten Blick etwas verwundernd mag ein weiteres Feld von Turners Karzeralität-Forschung wirken: Meerespolitik und räumliche Abgrenzung. Rund ein Drittel der weltweiten Meere sollen laut einem UN-Übereinkommen weitgehenden Schutz erhalten. Doch wie lassen sich die Schutzgebiete abgrenzen? „Im Meer Grenzen zu ziehen, ist natürlich schwierig. Fische und andere Meeresbewohner lassen sich nicht eingrenzen.“ Auch hier kann die Trierer Forschende mit dem Konzept der Karzeralität Expertise zum Management „flüssiger“ Grenzen beisteuern.
WGs für straffällige Personen
Doch zurück zu Jennifer Turners Forschung zu Gefängnissen. Die meisten Projekte waren bisher in Großbritannien, aber auch in Dänemark und Norwegen angesiedelt. „Ich hoffe, dass ich demnächst meine Forschung auch in deutschen Gefängnissen intensivieren kann.“ Der Vergleich von Gefängnissen in verschiedenen Ländern ist wie Äpfel mit Birnen gleichzusetzen. Wie Gefängnisse aufgebaut und ausgestattet sind, hängt unter anderem von der Gewichtung im Sozialsystem ab. „Letztlich ist die Frage, wie viel Geld man für verurteilte straffällige Personen ausgeben möchte“, fasst es Turner zusammen. Während die Unterbringung pro Inhaftierten im norwegischen Vorzeige-Gefängnis umgerechnet jährlich fast 120.000 Euro kostet, kann man in Deutschland ungefähr mit der Hälfte rechnen (die Kosten werden nicht zentral erhoben). In Dänemark gleichen die Gefängnisse eher Wohngemeinschaften, in Deutschland und Großbritannien sind Gefängnisse oft noch ähnlich aufgebaut wie vor einem halben Jahrhundert. Dass nicht alle diese Orte geeignet sind, um Ziele des Strafvollzugs wie Resozialisierung zu erreichen, liegt auf der Hand. Genau das ist der praktische Nutzen einer geografischen Gefängnisforschung.
Beispielprojekt: Viktorianische Gefängnisse
20 Prozent aller Inhaftierten in Großbritannien sind in Gefängnissen untergebracht, die in viktorianischer Zeit im 19. Jahrhundert gebaut wurden. Warum sind sie immer noch in Benutzung? Sind sie überhaupt noch geeignet für einen zeitgemäßen Strafvollzug? Diesen Fragen ist ein Forschungsteam der Universitäten in Trier, Birmingham und Bath nachgegangen. Schon seit Langem stehen viktorianische Gefängnisse in der Kritik. Bemängelt werden beispielsweise die kleinen Zellen. Im Sommer ist die Raumtemperatur fast unerträglich heiß, im Winter kalt. Räume für Gruppenworkshops waren vor 150 Jahren nicht vorgesehen und müssen mühsam nachgerüstet werden. Während der Corona-Pandemie, als die Inhaftierten in ihren Zellen bleiben mussten, wurde überlegt, ob eine Telefonanlage installiert werden kann. Nicht so einfach bei meterdicken, alten Mauern.
Wie die Forschenden Dominique Moran, Matt Houlbrook, Yvonne Jewkes und Jennifer Turner in ihrem politischen Briefing schreiben, gelten die Gefängnisse als sehr sicher gebaut. „Ein großer Pluspunkt der Gefängnisse ist aber auch deren Lage“, sagt Jennifer Turner (Kultur- und Politische Geographie, Universität Trier). Damals sind die Gefängnisse außerhalb der Stadt errichtet worden. Durch das Wachstum der Städte liegen sie nun jedoch in den Städten und sind beispielsweise auch an das öffentliche Nahverkehrssystem angebunden. Für Inhaftierte im offenen Strafvollzug, die tagsüber zur Arbeit in die Stadt gehen, ist dies ebenso von Vorteil wie für Besucherinnen und Besucher. „Es ist aber vor allem auch eine finanzielle Frage: Geeignete Flächen fehlen, auf denen man günstig neue Gefängnisse errichten könne“, erklärt Turner. Auch eine praktische Komponente komme hinzu: Das Strafvollzugspersonal wurde eben an diesem Typ Gefängnis geschult: lange Flure mit Einzelzellen, vier Stockwerke übereinander. Daher äußern sich auch die Beschäftigten im Strafvollzug eher zurückhaltend, wenn es um den Neubau der Gefängnisse geht. Für ihre Studie befragten die Forschenden das Personal ebenso wie die Inhaftierten. Auch Werke von Inhaftierten aus einem Kreativworkshop sind in die Auswertung eingeflossen. Die Inhaftierten waren unter anderem gebeten worden, ihre Zellen zu zeichnen. Das Fazit der Studie: „Bis andere Lösungen gefunden sind, sind die viktorianischen Gefängnisse noch zweckdienlich.“