Wohin führt Europas Weg? Diese Frage beantwortete Stefan Hradil erwartungsgemäß nicht mit einem wahrsagerischen Blick in eine Glaskugel. Der emeritierte Mainzer Professor rundete seine Vorlesungstrilogie an der Universität Trier mit einem „Routenplaner“ ab, der unterschiedliche Wege in ein gefestigtes Europa aufzeigte. In den beiden vorangegangenen Vorträgen hatte der Inhaber der Gastprofessur des Freundeskreises Trierer Universität Faktoren aufgezeigt, die Europa zusammenhalten und solche, die es auseinandertreiben. „Die Europäische Union steuert nicht auf ihren Untergang zu, aber sie ist auch nicht in ruhigen Fahrwassern“, beschrieb er die aktuelle Lage.
Als Soziologe richtete Hradil seinen Blick auf „subjektive Faktoren“ und betrachtete politische oder wirtschaftliche Determinanten nur am Rand. So prüfte er, wie es um die europäische Identität bestellt ist. Die Menschen in Europa identifizieren sich primär mit ihrer nationalen Heimat und nur zu einem geringen Anteil mit Europa. Innerhalb von 20 Jahren habe sich daran wenig geändert. Allerdings habe die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht dazu geführt, dass sich Bürger massenhaft von der EU abwendeten. „Sie wissen zu unterscheiden zwischen Krisen und langfristigen Vorteilen“, folgerte Hradil.
Der emeritierte Professor der Universität Mainz sieht Herstellung von Konsens und die Überbrückung sozialer Differenzen als zwei Hauptstraßen in die europäische Zukunft. Die EU sei ein zu junges Gebilde als dass sie über traditionell-überkommene gemeinsame Werte verfüge. Die EU mache den Menschen aber nicht bewusst, dass die Gesellschaften durch gemeinsame Grundwerte –fixiert in der Charta der Grundrechte – verbunden seien.
Als Brücken zum Überspannen sozialer Differenzen schlug Hradil vier Strategien vor. Zum einen müsste den Menschen der Nutzen der EU ins Bewusstsein gerückt werden. „Wahrgenommene Vorteile und Wohlstand können die Identität und das Empfinden für die EU steigern.“ Die EU könnte den Umgang mit dem Pluralismus und die Konfliktbewältigung in der Staatengemeinschaft als ein Markenzeichen und Verdienst herausstellen. Die EU müsse zudem Position beziehen und somit Vertrauen schaffen in der Diskussion um Demokratiedefizite. Bislang verfolge man die Politik, beständig einen Schritt voranzuschreiten ohne die grundsätzliche Richtung zu diskutieren: Soll die EU ein Staatenbund bleiben oder sich zum Bundesstaat entwickeln?
Eine gemeinsame europäische Sozialpolitik hält Hradil für unrealistisch. Eine Mindestsicherung (Armutsgrundsicherung) hält er für umsetzbar und für einen wichtigen Beitrag „zu einem gemeinsamen Bürger-Bewusstsein.“
Eine Krise, schloss Hradil, sei eine Situation mit unklarer Zukunft, aber immer auch eine Zeit des Nachdenkens. „Die Europäische Union täte gut daran, sich über ihren Endzustand Gedanken zu machen, dann könnte sie gestärkt aus der Krise hervorgehen.“
Helmut Schröer, Vorsitzender des Freundeskreises Trierer Universität, dankte Hradil für die „über drei Monate hinweg gelungene Veranstaltung“ und überreichte als Erinnerung und Abschiedsgeschenk Uni-Wein.