Religion zur Selbsterhaltung der Gesellschaft

Mit einem Vortrag zum Verhältnis von Politik und Religion hat der frühere Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert die Gastprofessur des Freundeskreises Trierer Universität eröffnet.

Die zentrale Frage des Themas stellte Norbert Lammert gleich zu Beginn seines Vortrags: „Wie viel Religion braucht eine demokratisch verfasste Gesellschaft?“ Die Antwort lieferte er ganz am Ende: „Mindestens so viel wie sie zu ihrer Selbsterhaltung benötigt.“ War damit nicht schon alles Wichtige gesagt? Brauchte es noch den gut einstündigen „Mittelteil“ des Vortrags? Unbedingt! Schon wegen der unterhaltsamen Eloquenz des Redners, vor allem aber wegen der Folgefragen und der Argumentationsketten, die Lammert zur Dualität von Politik und Religion formulierte.

Da war zum Beispiel die Thematik der Unauflöslichkeit dieses Spannungsverhältnisses. Die Ursachen für dieses Dilemma sieht Lammert darin, dass beide Institutionen einen Geltungsanspruch gegenüber der Gesellschaft erheben, also zu definieren, was in einer Gesellschaft gilt. „Deshalb können Politik und Religion einander nicht gleichgültig sein“, folgert Lammert. „Sie richten sich an die gleiche Kundschaft, aber mit konkurrierenden Gestaltungsansprüchen.“ Religion handele von Wahrheit, Politik von Interessen. Beides sei zentral für eine Gesellschaft, aber eben nicht dasselbe.

Als „spektakulären“ Beispielfall für das Spannungsverhältnis von Politik und Religion in der deutschen Gesellschaft führte Lammert das Grundgesetz ins Feld – „ein hochideologisch und zugleich tiefreligiös geprägter Text.“ Als Belege dienten die Präambel („Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben“) und Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“). Darin spiegele sich die von Jürgen Habermas so formulierte „Bedeutung von religiösen Überzeugungen für das Selbstverständnis und für die innere Stabilität moderner Gesellschaften“ wider.

Diese Überzeugung schließt die Vorstellung aus, das Spannungsverhältnis ließe sich durch einen völligen Verzicht auf Religion in politischen Angelegenheiten auflösen. „Ein aufgeklärter Staat kann nicht auf religiöse Bezüge verzichten“, stellte Lammert klar. Das sei auch von den Menschen nicht gewollt. Trotz des Vertrauensverlustes und der Abwendung von Kirchen gebe es in der Gesellschaft weiterhin eine überragende Akzeptanz für religiöse Werte. Die Menschen seien auch nach wie vor von der christlichen und religiösen Prägung Deutschlands überzeugt.

Dieses Phänomen lässt sich global beobachten. „Religion ist bis heute nie aus der Politik verschwunden“, so Lammert. Sie habe sogar eine Revitalisierung erfahren, die sich in zwei Ausprägungen zeige: der Politisierung und Instrumentalisierung von Religion mit fundamentalistischen Ansprüchen sowie in der Religiosität zur persönliche Entfaltung im privaten Raum.

„Ich plädiere für eine sorgfältige Trennung und eine intelligente Verbindung von Politik und Religion. Eine demonstrative Absage an Religion macht eine Gesellschaft nicht besser und nicht lebenswerter“, zog Lammert ein Fazit seiner Betrachtungen, aus denen er für sein nächstes Gastspiel an der Universität bewusst einige Fragen aussparte. Die wird er am 1. Juli im zweiten Teil seiner Gastprofessur an der Universität in einem höchst interessanten Format mit dem Trierer Bischof Stephan Ackermann diskutieren.

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