Der Ukraine-Krieg und das Recht

Im Februar 2022 begann ein Angriffskrieg auf die Ukraine. Als Reaktion hat die EU fünf Sanktionspakete verhängt. Unser Autor Noah Drautzburg beschäftigt sich mit den Hintergründen der Sanktionen und beleuchtet diese aus völkerrechtlicher Sicht. Zuletzt behandelt er die Möglichkeiten der Strafverfolgung im Kontext des Krieges.

 

In der Nacht auf den 24. Februar 2022 hat der russische Präsident Vladimir Putin zusammen mit der russischen Armee die europäische Sicherheitsordnung in einer Weise erschüttert, die sich Außenstehende kaum vorstellen konnten. Es begann ein Angriffskrieg auf die Ukraine.

Während militärisch und politisch der Druck auf Russland wächst, versucht eine große Allianz aus Staaten auch, die Grenzen des juristisch Möglichen auszuloten. Welche Sanktionen das Völker- und das Europarecht erlauben und wie eine strafrechtliche Aufarbeitung des Krieges aussehen könnte, soll diese Ausgabe von „Im Fokus der Rechtspolitik“ beantworten.

        I. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine

Als die russische Armee die ersten Raketen auf die Ukraine abfeuerte, begründete Präsident Putin das mit einem Völkermord, den die „faschistische“ ukrainische Regierung an dort lebenden ethnischen Russen verübe. Darauf sehen jedoch weder OSZE noch UN Hinweise.

Über diese Frage hat die Ukraine bereits zwei Tage nach der Invasion ein Eilverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) angestrengt, der nach Art. 9 Völkermordkonvention für deren Auslegung zuständig ist.  Noch hat der IGH nicht final geurteilt. Allerdings schrieb er, bisher keine „substantiierten“ Beweise für einen Völkermord durch den ukrainischen Staat zu haben und ordnete an, dass Russland die militärischen Kampfhandlungen unterbrechen müsse. Russland ist damit dieser Legitimierungsversuch der Invasion genommen worden.

Schnell wurde klar, dass in einer Art „Enthauptungsschlag" der amtierende Präsident Wolodymyr Selenskjy gestürzt und ein prorussischer Regierungschef eingesetzt werden sollte – in der Diktion Russlands eine „Entnazifizierung“. Dieser Plan scheiterte offenkundig. Zwar war die russische Armee zunächst auf dem Vormarsch, jedoch wohl langsamer als erhofft. Statt eines Überfalls begann ein Krieg um einzelne Städte, der bereits in seinem ersten Monat tausende Menschenleben kostete. Schließlich zog sich die russische Armee in die Ostukraine zurück, um von dort eine neue Offensive zu beginnen. In Folge des Rückzugs wurden in vielen ukrainischen Städten Massengräber entdeckt, in denen offenbar die Körper getöteter Zivilisten entsorgt werden sollten. Über die genaue Zahl der Opfer gehen die Angaben zwischen Russland, der Ukraine und Internationalen Organisationen weit auseinander.

        II. Die EU-Sanktionen

Sanktionen haben sich zu einem gängigen Mittel der EU-Außenpolitik entwickelt. Mit Stand Mai 2022 sanktioniert die EU 28 Staaten in unterschiedlicher Art und Intensität. Mit größerer Verbreitung von Sanktionen ging auch deren Wandel zu sogenannten „smart sanctions“ einher. Wurden früher die wirtschaftlichen Beziehungen zu einem sanktionierten Staat oft vollständig abgebrochen, ist man seit einiger Zeit dazu übergegangen, einzelne Branchen, Unternehmen oder Personen zu sanktionieren, um so möglichst zielgenau die Verantwortlichen für das sanktionierte Verhalten zu treffen und dessen Beendigung zu erzwingen, ohne die Zivilbevölkerung zu stark zu belasten. Daher ist hier auch von „targeted sanctions“ die Rede. Grund dafür waren die verheerenden Auswirkungen einiger UN-mandatierter Sanktionen in den 1990er Jahren, die durch das Ende der Blockbildung des Kalten Krieges möglich geworden waren. Allen voran die Irak-Sanktionen von 1990/91 hatten gravierende Folgen auch für dessen Zivilbevölkerung.

Mit Bezug auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die EU in bisher fünf Paketen weitreichende Sanktionen gegen das Land verhängt. Das Erste von ihnen wurde noch am Tag vor der eigentlichen Invasion auf den Weg gebracht und war eine Reaktion auf die russische Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken in der Ostukraine (Beschlüsse 2022/327-333 des Rates).  Eine Auflistung der seitdem verhängten Maßnahmen kann an dieser Stelle nur exemplarisch bleiben:

  • Persönliche Sanktionen wie das Einfrieren des Vermögens und Reisebeschränkungen wurden mit Stand 18. April 2022 gegen 877 Personen und 62 Organisationen in Russland verhängt. Erstmals gehören auch hochrangige Politiker wie Präsident Putin und Außenminister Lawrow dazu.
  • Transaktionen mit den Zentralbanken von Russland und Belarus wurden verboten.
  • Bestimmte Banken aus Russland und Belarus wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen.
  • Die Ausfuhr bestimmter Güter nach Russland, die etwa zur Raffination von Erdöl gebraucht werden oder zu militärischen Zwecken verwendet werden können, wurde verboten.
  • Die Einfuhr von Eisen und Stahl aus Russland in die EU wurde verboten.
  • Die Sendetätigkeiten der russischen Staatsmedien „Sputnik“ und „Russia Today“ in der EU wurden ausgesetzt

Anfang Mai hat die EU-Kommission zudem Vorschläge für ein sechstes Sanktionspaket vorgelegt, in dem nach einer Übergangsphase ein Embargo für den Import russischen Öls vorgesehen ist. Derzeit sind die genauen Modalitäten jedoch noch Gegenstand politischer Verhandlungen. Außerdem sollen weitere Banken vom SWIFT-System abgekoppelt werden, darunter auch die größte russische Bank „Sberbank“.

Auf welcher Basis aber sind solche Maßnahmen überhaupt möglich? Und in welchen Grenzen?
Geht es in der EU um „Sanktionen“, so ist generell von „restriktiven Maßnahmen“ die Rede. Umgesetzt wurden die Sanktionen größtenteils durch die Änderung zweier Verordnungen, die bereits als Reaktion auf die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 verabschiedet wurden. Zu nennen ist hier zunächst die Verordnung Nr. 269/2014 „über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen“. Sie beinhaltet personenbezogene Sanktionen mitsamt Listen der betroffenen natürlichen und juristischen Personen. Diese Listen wurden seit Kriegsbeginn immer wieder auf jetzt insgesamt über 900 Einträge erweitert. Sektorale Maßnahmen, also etwa Handelsbeschränkungen sowie Sanktionen gegen den russischen Finanzmarkt, wurden in Verordnung Nr. 833/2014 „über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren“ eingefügt.

Bei der Verhängung von Sanktionen stützt sich die EU grundsätzlich auf die Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, Art. 215 AEUV), daher ist jeweils die Zustimmung aller Staats- und Regierungschefs im Rat der EU nötig (Art. 29 EUV i.V.m. Art 31 (1) EUV). In Art. 23 EUV i.V.m. Art 21 EUV heißt es, handlungsleitend für die EU seien dabei „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.“
Die konkrete Befugnis zur Verhängung von Sanktionen begründet Art. 29 EUV, nach dem der Rat Beschlüsse erlässt, „in denen der Standpunkt der Union zu einer bestimmten Frage geografischer oder thematischer Art bestimmt wird.“

Auch das Völkerrecht kennt die Möglichkeit von Sanktionen. Zunächst einmal wird diese Möglichkeit in der UN-Charta aber explizit nur dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingeräumt. Demnach muss er zunächst eine Bedrohung des Weltfriedens feststellen. Daraufhin kann er die UN-Staaten zur (teilweisen) Unterbrechung der wirtschaftlichen oder diplomatischen Beziehungen zu einem Staat aufrufen (Art. 41 UN-Charta). Dabei besitzt Russland als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat jedoch ein Vetorecht.
Dennoch bleibt es souveränen Staaten unbenommen, ihre auswärtige Politik auch ohne Mandat des Sicherheitsrats zu verändern. Da hier Fragen der gemeinsamen Handelspolitik betroffen sind, handelt es sich innerhalb der EU um eine Unionskompetenz (Art. 3 (1) lit. e AEUV).

        III. Wirtschaftssanktionen aus völkerrechtlicher Sicht

Wie jeder Einzelstaat bewegt sich auch die EU bei der Verhängung von Wirtschaftssanktionen in einem schwer auszutarierenden Spannungsfeld. So wird davon ausgegangen, dass jedenfalls Formen des wirtschaftlichen Zwangs in den Anwendungsbereich des Interventionsverbots fallen, wonach nicht in die inneren Zuständigkeiten eines Staates eingegriffen werden soll. Ein Paradebeispiel hierfür wären etwa Sanktionen, die unmittelbar einen Regimewechsel innerhalb des sanktionierten Staates zum Ziel haben. Auch Handelsbeschränkungen berühren jedoch die Souveränität Russlands. Das Interventionsverbot ist völkergewohnheitsrechtlich anerkannt und findet sich u.a. in der sog. Friendly-Relations-Declaration der UN-Generalversammlung (1970) wieder. Einen Spezialfall bilden die Sanktionen gegen die russische Zentralbank, deren Vermögenswerte innerhalb der EU blockiert wurden. Diese Guthaben genießen nach Völkergewohnheitsrecht eine Immunität vor jeglicher staatlichen Vollstreckungsmaßnahme – zu diesem Schluss kommt etwa Matthias Goldmann im „Verfassungsblog“ (28.02.2022).
Die etwaigen Verstöße gegen das Interventionsverbot und den Grundsatz der Immunität ausländischer Vermögenswerte von Zentralbanken seien jedoch gerechtfertigt: Mit dem Angriff auf die Ukraine hat die Russische Föderation einen Verstoß gegen das sog. Gewaltverbot gem. Art. 2 Abs. 4 Nr. 4 der UN-Charta begangen. Beim Gewaltverbot handele es sich um eine sog. „erga omnes“-Pflicht, argumentiert Goldmann. Dies bedeute, dass die gesamte Staatengemeinschaft vom Verstoß betroffen sei und daher mit Gegenmaßnahmen reagieren dürfe. Diese Grundsätze ergeben sich auch aus Art. 42 lit. b), ii) der „Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts“ (ASR), die geltendes Völkergewohnheitsrecht kodifizieren. Schließlich können die Wirtschaftssanktionen auch dadurch gerechtfertigt werden, dass die Staaten hier von ihrem Recht auf kollektive Selbstverteidigung gem. Art. 51 der UN-Charta Gebrauch machen, so Goldmann. Danach ist nicht nur der von einer Aggression betroffene Staat, sondern die gesamte Staatengemeinschaft dazu berechtigt, Maßnahmen zur Selbstverteidigung zu ergreifen, bis der Sicherheitsrat entsprechende Maßnahmen zur Friedenswahrung getroffen hat. Da Russland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ein Vetorecht innehat, erscheinen Maßnahmen des Sicherheitsrats jedoch als höchst unwahrscheinlich.

Weiterhin müssen Handelsembargos auch mit dem Recht der Welthandelsorganisation (WTO) übereinstimmen. Art. XXI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) erlaubt hier weitreichende Ausnahmen, wenn ein Vertragspartner Maßnahmen „zum Schutz seiner Sicherheit in Kriegszeiten oder im Falle einer anderen ernsten internationalen Spannung für erforderlich hält“ (Art. XXI b. iii. GATT). Ob sich die Staatengemeinschaft auf diese Norm berufen kann, müsste bei einer Anfechtung durch Russland durch ein Streitbeilegungspanel der WTO entschieden werden.
Schließlich sind nach Art. 50 (1) b ASR bei dem Verhängen von Sanktionen fundamentale Menschenrechte zu beachten. So sehen auch die EU-Sanktionen vor, das betroffenen Personen diejenigen Gelder weiterhin zur Verfügung gestellt werden müssen, die der „Befriedung der Grundbedürfnisse“ dienen. Darunter fallen etwa die Bezahlung von Nahrungsmitteln, Mieten, Medikamenten und Steuern (Art. 4 (1) a) EU-Verordnung 269/2014).

        IV. Rechtsschutz

Gleichwohl ist in jedem Einzelfall darauf zu achten, dass einzelne natürliche oder juristische Personen in Bezug auf ihren Anteil an dem sanktionierten Verhalten des Staates nicht unverhältnismäßig getroffen werden. Betroffene Einzelpersonen oder Unternehmen können daher gegen EU-Sanktionen vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 (4) AEUV i.V.m. Art. 275 (2) AEUV erheben.
Im Fall der jüngsten Sanktionen sind solche Schritte noch nicht bekannt. Im Jahr 2014 hatten jedoch einige russische Banken und Energieunternehmen auf diesem Weg gegen die Sanktionen geklagt, die der Rat der EU im Zuge der russischen Annexion der Krim beschlossen hatte. Sie sahen sich in ihrer unternehmerischen Freiheit und ihrem Eigentumsrecht nach Art. 16 und 17 GRCh verletzt. Damals urteilte das EuG, dass die Sanktionen rechtmäßig gewesen seien. Ihr Ziel, „die Kosten für die Handlungen Russlands, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben, zu erhöhen und eine friedliche Beilegung der Krise zu unterstützen“ stünde mit den bereits erwähnten außenpolitischen Zielen der EU nach Art. 21 EUV in Einklang. Zudem sei die Auswahl der sanktionierten Unternehmen hinreichend begründet worden. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gestand das Gericht dem Rat aufgrund der Komplexität der Abwägung einen weiten Einschätzungsspielraum zu. Der EuGH bestätigte später diese Entscheidung.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Unionsgerichte jede Sanktion durchwinken würden. Im Jahr 2014 etwa gab der EuG einer Nichtigkeitsklage der Syria International Islamic Bank (SIIB) statt, deren Gelder in der EU aufgrund eines Ratsbeschlusses eingefroren worden waren. Das Gericht stellte damals fest, dass der Rat die Sanktionierung dieser spezifischen Bank nicht hinreichend begründen könne.
In seiner Kadi II-Entscheidung urteilte der EuGH schon 2013, dass die Aufnahme eines vermeintlichen Terroristen in eine EU-Liste zur Umsetzung von UN-Sanktionen nicht hinreichend begründet worden sei bzw. es an Informationen oder Beweisen für dessen Unterstützung des sanktionierten Verhaltens (hier: Terrorismus) mangele (VC‑584/10 P, C‑593/10 P, C‑595/10 P, Rn. 163).
Vergleichbare Gründe müssten mithin auch russische Oligarchen und Politiker für die Nichtigerklärung ihrer Sanktionierung anführen können.

Ebenfalls problematisch im Sinne der Verhältnismäßigkeit sind Sanktionen, die zeitlich unbeschränkt sind, oder solche, die irreversible Folgen haben. Schließlich muss eine Aufhebung der Sanktionen bei Beendigung des sanktionsauslösenden Verhaltens möglich bleiben.
Die von der EU verhängten „restriktiven Maßnahmen“ müssen jedoch in einem gewissen Turnus, etwa alle sechs oder zwölf Monate, bestätigt werden und sind dahingehend unproblematisch.

        V. Strafrechtliche Verfolgung

Neben wirtschaftlichem, politischem und militärischem Druck ist auch ein juristisches Vorgehen gegen Verantwortliche für den Krieg möglich.
Um diese persönlich strafrechtlich zu belangen, kommen hierzulande zwei Wege in Frage: Der internationale über den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), sowie der über nationale Gerichte im Wege des Weltrechtsprinzips – so können Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen auch von nationalen Gerichten unbeteiligter Länder geahndet werden (§ 1 S. 1 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)). Auf dieser Grundlage wurde erst zu Beginn des Jahres ein ehemaliger Abteilungsleiter eines syrischen Foltergefängnisses durch das OLG Koblenz zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der bloße Tatbestand des Angriffskriegs könnte so von deutschen Gerichten jedoch nicht verfolgt werden. Auch der IStGH könnte hier nur tätig werden, wenn er von beiden Kriegsparteien anerkannt wäre, oder der UN-Sicherheitsrat dessen Zuständigkeit erweitern würde – Russland hat jedoch weder die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anerkannt, noch würde es einer entsprechenden Entscheidung des Sicherheitsrates zustimmen, die Situation in der Ukraine dem Gerichtshof zu unterbreiten.
Bei der Ukraine sieht das anders aus. Sie hat nach der Annexion der Krim die Gerichtsbarkeit des IStGH durch eine Unterwerfungserklärung quasi ad hoc anerkannt. So kann dieser etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verfolgen, sofern sie auf dem Staatsgebiet der Ukraine verübt wurden.
Anders als der Angriffskrieg an sich können solche sogenannten „völkerrechtlichen Kernverbrechen“ auch von deutschen und anderen nationalen Gerichten verfolgt werden.
Was Kriegsverbrechen sind, definieren die §§ 9-12 VStGB bzw. Art. 8 IStGH-Statut. Grob könnte man sagen, darunter fallen solche Gewaltakte, die nicht für das Erreichen militärischer Ziele erforderlich sind. So etwa das gezielte Töten und Foltern von Zivilisten und der Einsatz von biologischen und chemischen Kampfstoffen.
Für Ersteres sieht ein Expertenteam der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in einem Bericht „glaubwürdige Beweise“. Viele Nichtregierungsorganisationen und auch Ermittler des IStGH waren und sind in der Ukraine, um weitere Indizien für Kriegsverbrechen zu sammeln.
Inwieweit russische Generäle oder Politiker für solche Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden könnten, wird davon abhängen, ob ein Gericht eine direkte Befehlskette rekonstruieren, oder jedenfalls deren tatsächliche Kontrolle über die betreffenden Truppenteile nachweisen kann.
Nach dem Völkerrecht sowie nach einem Grundsatzurteil des BGH können amtierende Staatschefs anderer Länder jedoch nicht von einem deutschen Gericht verurteilt wären – zu groß wäre hier der Eingriff in deren Souveränität. Solange Vladimir Putin russischer Präsident ist, käme für ihn also nur ein Prozess vor dem IStGH in Betracht. Dessen Statut bezieht ganz ausdrücklich auch Staatschefs in seine Gerichtsbarkeit ein, ungeachtet jeder amtlichen Immunität. (Art. 27 IStGH-Statut).
Erst wenn es dem IStGH gelingt, sowohl Kriegsverbrechen als auch eine Verantwortung Putins oder anderer Politiker oder Militärs dafür zu belegen, könnte der Gerichtshof einen internationalen Haftbefehl beantragen. Russland könnte diejenigen Personen dann ausliefern. Auch wenn das nicht geschieht, müssten sie jeden der 123 Staaten, die den IStGH anerkannt haben, meiden. Diese nämlich wären zu ihrer Festnahme und Überstellung nach Den Haag verpflichtet (Art. 89 IStGH-Statut).
Erst, wenn ein Beschuldigter in Den Haag anwesend ist, könnte ihm der Prozess gemacht werden.
Dass ranghohe Personen und Militärs bald für Verbrechen im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt werden, erscheint also wenig wahrscheinlich. Auf lange Sicht ist es jedoch nicht ausgeschlossen. Die Bewegungsfreiheit der betroffenen Personen wäre in jedem Fall stark eingeschränkt. In Ungnade gefallene Generäle oder Politiker könnten ausgeliefert werden, nach einem Regimewechsel wäre dies auch für Putin selbst denkbar.

Noah Drautzburg