Einblicke in innerchinesische Debatten
In Chinas sozialen Medien wird der Besuch der US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi in Taiwan teils in Tönen kommentiert, die schärfer sind als die der Regierung. Nationalistische Blogger sehen die Volksbefreiungsarmee zum Handeln gezwungen – und setzen damit Beijing unter Druck. Solche Debatten zeigen: es gibt auch heute noch in China lebhafte Diskussionen jenseits offizieller Regierungslinien, auch wenn die Zensur verstärkt versucht, solche Äußerungen zu unterbinden. Dies gilt für das gesamte Spektrum des Sagbaren: auch Kommentare, die mehr Meinungsfreiheit und weniger Staatskontrolle fordern oder Partei und Regierung kritisieren, werden stark eingeschränkt.
Dennoch wird in chinesischen Online-Foren und sozialen Medien weiterhin lebhaft, kontrovers und kritisch diskutiert. Das Projekt „China Spektrum“ des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Kooperation mit dem China-Institut der Universität Trier (CIUT) will dieses vielfältige Meinungsspektrum in der Volksrepublik sichtbar machen. Gefördert wird es durch die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF).
Diskussionen unterbunden
Chinas Führung kontrolliert Diskurse auf mehreren Ebenen. So machen zum Beispiel neue Vorschriften Administratoren für den Verlauf von Online-Chats haftbar. Aber auch Zensur, Einschüchterung und daraus folgende Selbstzensur unterbinden offene Diskussionen. Doch die Zensoren geraten mitunter an ihre Grenzen – zuletzt unter anderem während des Lockdowns in Shanghai.
„Gerade dort, wo Chinas Bürger:innen persönlich betroffen sind, können staatliche Zensoren Online-Debatten nicht vollständig ersticken“, schreiben die Projektleiterinnen Kristin Shi-Kupfer, Professorin für Sinologie an der Universität Trier, und Katja Drinhausen, Leiterin des Programms Innenpolitik und Gesellschaft am Mercator Institute for China Studies (MERICS), in der ersten Analyse von China Spektrum. Schwerpunktthemen dieser Ausgabe sind Debatten über den Krieg in der Ukraine, das Krisenmanagement der chinesischen Regierung und Kritik am Vorgehen Beijings gegen den IT-Sektor.
Breites Spektrum
Bei allen Themen gehe es darum, „nicht nur einzelne Stimmen oder Artikel, sondern ein breiteres Spektrum an Meinungen abzubilden und in Bezug zu offiziellen Positionen zu setzen“, erklärt Katja Drinhausen. Was erlaubt die Regierung? Wo schreitet sie ein? Wie verschiebt sich das Spektrum des Sagbaren? Darüber soll das auf zwei Jahre angelegte Projekt Aufschluss geben.
Wenn bestimmte Themen überhaupt kontrovers diskutiert werden können, liegt das nach Einschätzung von Kristin Shi-Kupfer auch an Differenzen innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten. „Wir können aus den Debatten vorsichtige Rückschlüsse ziehen, was innerhalb der Eliten an Konsens herrscht und wie groß die Bandbreite an Positionen zu einem Thema ist.“
Zum Projekt
Das Projektteam von China Spektrumbesteht aus mehreren Expert:innen von MERICS und der Universität Trier. Es untersucht Debatten und Positionen unter einflussreichen chinesischen Intellektuellen und Expert:innen, aber auch Themen, welche die breite Öffentlichkeit bewegen. Die Forschenden verfolgen Debatten auf chinesischen Social-Media-Plattformen wie Weibo und WeChat oder dem Reddit-Pendant Zhihu. Sie werten Medienbeiträge, wissenschaftliche Artikel, offizielle Stellungnahmen und Regierungsdokumente aus. Die publizierten Analysen sollen für Leser:innen in Deutschland Anknüpfungspunkte schaffen, sich mit diesen Debatten auseinanderzusetzen und so die China-Kompetenz stärken helfen.
Weitere Informationen zum Projekt
Kontakt
Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer
Sinologie/ China Institut der Universität Trier
Mail: shikupfer@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-3200