Der Kommunismus beeinflusst heute noch Entscheidungen

Forschende haben langfristige Auswirkungen auf Risiko- und Zeitpräferenzen von Individuen in Europa untersucht.

Unterschiede zwischen west- und osteuropäischen Gesellschaften im Hinblick auf Risikopräferenzen bei Gewinnen und bei Verlusten beruhen laut den Autoren der Studie auf Einflüssen des Kommunismus. Foto: Colourbox

Risiko- und Zeitpräferenzen sind wichtige Faktoren bei der Entscheidungsfindung, auf individueller wie auf staatlicher Ebene. Zeitpräferenzen beeinflussen zum Beispiel das Spar- und Anlageverhalten. Im staatlichen Kontext beziehen sich Zeitpräferenzen etwa darauf, zu welchem Zeitpunkt die Steuerpolitik geändert wird oder gesundheitspolitische oder klimapolitische Maßnahmen beschlossen werden. Risikopräferenzen drücken die Bereitschaft aus, bei einer Entscheidung negative oder nicht vorhersehbare Folgen in Kauf zu nehmen.

Prof. Dr. Marc Oliver Rieger von der Universität Trier hat gemeinsam mit Prof. Dr. Mei Wang und Johannes Schaewitz von der WHU – Otto Beisheim School of Management langfristige Auswirkungen des Kommunismus auf Risiko- und Zeitpräferenzen von Individuen in Europa untersucht. Es geht dabei um die Frage, ob die Koexistenz zweier gegensätzlicher Ideologien in Europa mit unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen die Präferenzen der Menschen langfristig geprägt hat.

Einfluss auf Präferenzen

„Die Untersuchung von Einflüssen früherer kommunistischer Institutionen auf Zeit- und Risikopräferenzen ist von großer Bedeutung für das Verständnis aktueller wirtschaftlicher und politischer Entscheidungen, insbesondere in Osteuropa. Es hat sich gezeigt, dass Risiko- und Zeitpräferenzen verschiedene politisch relevante Themen wie die Steuerpolitik oder den Umweltschutz beeinflussen“, schreiben Wang, Rieger und Schaewitz in ihrer im Journal of Economic Behavior and Organization veröffentlichten Studie. Nach Kenntnis der Autoren ist es die erste umfassende Untersuchung kommunistischer Einflüsse auf die Risiko- und Zeitpräferenzen von Bürgern auf europäischer Ebene.

Die Datenbasis für ihre Untersuchungen bezogen die Forschenden aus zwei groß angelegten Erhebungen für europäische Länder (INTRA) sowie für West- und Ostdeutschland (SOEP). Sie stellen fest, dass auch drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus immer noch Unterschiede zwischen West- und Osteuropa hinsichtlich Risiko- und Zeitpräferenzen bestehen. Die Suche nach den Ursachen der Unterschiede ist auch deshalb lohnend, weil sie Vorhersagen erlauben, welche Divergenzen sich in naher Zukunft eher angleichen werden und welche auch in Zukunft einkalkuliert werden sollten.

Hilfe für Entscheidungsträger

„Unsere Ergebnisse können politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern helfen zu verstehen, wie und warum sich die Risiko- und Zeitpräferenzen sowie die Verlustaversion osteuropäischer Gesellschaften von denen westeuropäischer Staaten unterscheiden“, schreibt das Autorenteam. Nach ihren Ergebnissen werden die Faktoren Verlustaversion und Zeitdiskontierung durch formelle und informelle Institutionen geprägt, die deutlich älter sind als die kommunistische Phase. Unterschiede in der Impulsivität ebenso wie Unterschiede in den Risikopräferenzen bei Gewinnen und bei Verlusten beruhen dagegen auf Einflüssen des Kommunismus, wobei Risikopräferenzen auch durch die Herausforderungen der Transformationsprozesse nach Ende des Kommunismus beeinflusst sind.

Politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern vermitteln die Forschenden die Botschaft, „dass sich die in den osteuropäischen Ländern festgestellte hohe Risikoaversion bei Gewinnen und die hohe Risikobereitschaft bei Verlusten in einem relativ kurzen Zeitraum den weniger risikoaversen Präferenzen Westeuropas annähern kann, wenn die politischen und wirtschaftlichen Institutionen in den postkommunistischen Ländern stabil sind. Allerdings scheinen eine größere Ungeduld und Verlustaversion bei osteuropäischen Personen fester verankert zu sein. Sie werden sich wahrscheinlich kurz- bis mittelfristig durch politische und wirtschaftliche Reformen nicht ändern lassen.“

Die Studie

Johannes Schaewitz, Mei Wang, Marc Oliver Rieger
Culture and Institutions: Long-Lasting Effects of Communism on Risk and Time Preferences of Individuals in Europe.
Journal of Economic Behavior and Organization, Volume 202, Oktober 2022, S. 785-829.

Zur Studie

Kontakt

Prof. Dr. Marc Oliver Rieger
Betriebswirtschaftslehre/Bank- und Finanzwirtschaft
Mail: mrieger@uni-trier.de
Tel. +49 651 201-2721