Auf den kommenden Seiten diskutieren Forschende unterschiedlicher Disziplinen Fragen zu Kunst, gemeinsamen Werten, Normen und der Frage nach unserer Identität. Eins ist aber sicher: Kultur ist dynamisch und entwickelt sich ständig weiter, beeinflusst durch soziale, politische, wirtschaftliche und ökologische Faktoren. Das bringt auch (Kultur-)Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder dazu, neue Perspektiven einzunehmen.
KULTUR
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Fächern Geschichte, Soziologie, Ethnologie, Anglistik und Germanistik an der Universität Trier zeigen, wie divers ihre Kulturforschung ist. Von zeitgeschichtlichen Phänomen wie der Cancel Culture oder Unterhaltungskultur wie Deutschrap und Late Night Shows bis hin zur kulturellen Aneignung, kulturellem Miteinander und den Herausforderungen der Erinnerungskultur. Kultur – dafür hat wohl jede Nation, Generation, Gesellschaft und jeder Einzelne eine eigene Definition. An der Universität Trier befassen sich seit Jahrzehnten viele Professuren und Fächer im weitesten Sinne mit Kultur.
![Bildbeschreibung v.l.n.r.: Dr. Thomas Grotum, Prof. Dr. Andrea Geier, JProf. Dr. Robert Jungmann, Dr. Heidi Süß (Foto: Matthias Gephart /Disturbanity Graphics), Dr. Lena Haase (Foto: Lisanne Parry), JProf. Dr. Gerhild Perl, JProf. Dr. Nele Sawallisch, Dr. Marc Dietrich.](/fileadmin/organisation/Presse/Bilder_2024/12_Dezember/Kultur.jpg)
HIPHOP
Obwohl dem Genre einige Klischees anhaften, finden auch Themen wie Rassismus, Migration, Geschlecht oder soziale Ungleichheit ihren Platz im Hip-Hop. Dr. Marc Dietrich und Dr. Heidi Süß forschen zu Deutschrap.
Was alle Rap-Künstlerinnen und Künstler vereint ist, dass sie von ihrer Lebenswelt erzählen. Und diese waren ab den späten 1970er Jahren im New Yorker Stadtteil South Bronx vor allem männlich, afroamerikanisch und von sozialer Ungleichheit geprägt. In Deutschland fasste der Rap in den 1990er Jahren mit ähnlichen Themen Fuß. Heute seien die Songtexte aber vielfältiger: „Deutschrap ist Resonanzboden für jegliche gesellschaftliche Themen im progressiven und regressiven Sinne“, erklärt Dr. Marc Dietrich, Mediensoziologe an der Universität Trier. Er und Dr. Heidi Süß untersuchten gemeinsam mit Günter Mey (Hochschule Magdeburg-Stendal) in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt, wie Rap und Rassismus inszeniert und in Musikvideos dargestellt werden. Die Forschenden analysierten Musikvideos und YouTube-Kommentare sowie die Medienresonanz ausgewählter Songs. „Es ging uns darum, Hip-Hop als digitale Kultur zu beleuchten“, berichtet Dr. Heidi Süß.
Zentrales Ergebnis der Studie ist eine zunehmende Diversifizierung der Thematiken. Zum einen fanden Integrationsprozesse hinsichtlich patriarchaler Strukturen statt, so die Mediensoziologin Süß. Obwohl im Straßenrap noch immer dominante Männlichkeitsbilder präsent seien, sei das Verständnis von Männlichkeit komplexer geworden. Themen wie Depressionen und Trauer zeigten auch im Gangstarap Verletzlichkeit. Zum anderen hat sich die Erzählperspektive über Rassismus entwickelt. Während in den 1990er Jahren vor allem afrodeutsche sowie türkisch- und arabischstämmige Männer Deutschrap prägten, veränderten Fluchtbewegungen, Diskurse über Geschlechtergerechtigkeit und Diversität die Themen. Rapperin Ebow etwa bringt ihre queer-feministische Perspektive und kurdische Herkunft in ihren Song „K4L“ ein. Sie beleuchtet die Gastarbeitergeneration und inszeniert die Erzählung als kollektives Erlebnis ihrer eigenen Familie. Während die 2000er Jahre ironisch mit Stereotypen spielten, findet man heute direkte Rassismus-Kritik. Einige wenige Rapper unterstützen jedoch die identitäre Bewegung und rechtspopulistische Semantiken. Die avantgardistische Rap-Szene, zu der auch OG Keemo gehört, setzt dem etwas entgegen. In „216“ thematisiert er internalisierten Rassismus und kritisiert das verinnerlichte weiße, hegemoniale System, das Opfer zu Tätern machen kann, so die Soziolog*innen. Die Prägekraft von Deutschrap ist enorm, insbesondere für Jugendliche: „Deutschrap beeinflusst das Fühlen, Wollen und Handeln seiner Hörerinnen und Hörer“, betont Marc Dietrich. Dabei geht es zum einen um die Musik selbst: Sie basiert traditionell auf Sampling, einer Technik, welche Ausschnitte aus bereits bestehender Musik neu verwendet. Wer Hip-Hop hört, lernt so viele unterschiedliche Musikstile kennen. Vielmehr jedoch geht es um die Identifikationsangebote, um einen ganzen Lifestyle, inklusive Mode und wirtschaftlicher Aspekte. Dietrich, der selbst ein Kind der MTV-Ära ist, bringt es auf den Punkt: „Deutschrap hat ganze Generationen geprägt und wird dies auch weiterhin tun. Deshalb ist diese Szene entscheidend, wenn wir gesellschaftliche Normen, Werte, Themen, Diskurse und Konfliktlinien dieser Generationen erforschen möchten.“
Late Night
Late Night Shows haben in den USA seit Jahrzehnten hohe Einschaltquoten. Warum diese Abendsendungen auch in Zeiten des digitalen Wandels für US-Amerikanerinnen und -Amerikaner so wichtig sind, weiß Nele Sawallisch.
Late Night Shows in den USA gleichen einer Arena, in der das Selbstbild der Bevölkerung diskutiert und verhandelt wird. Mal wird über Popkultur, dann über Religion, viel über Politik und die politische Kultur diskutiert – die Themen sind vielfältig. Die Kombination aus Comedy, Talkshow und Nachrichten trifft dabei den Nerv der Zeit: Besonders junge Menschen informieren sich zunehmend über Unterhaltungsshows. John Oliver ist „in“, traditionelle Nachrichten wie die von CNN sind „out“. „Diese besondere Rolle in der politischen Bildung gilt es wissenschaftlich zu untersuchen, um die Gesellschaft in den USA besser zu verstehen“, betont Anglistik-Juniorprofessorin Nele Sawallisch. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin analysiert an der Universität Trier die amerikanische Late Night auf Muster und wiederkehrende Thematiken: Über was wird gesprochen? Wer redet über welche Themen? Wie werden diese behandelt?
Im Jahr 2024 stand im Abendprogramm der US-Wahlkampf im Zentrum der Aufmerksamkeit. Kandidatinnen und Kandidaten wie Donald Trump und Kamala Harris aber auch Joe Biden oder Nikki Haley, prägten mit ihrem individuellen Image das öffentliche Bild und füllten ihre Rollen als Präsidentschaftskandidierende unterschiedlich aus. In Late Night Shows werden diese Darstellungen lebhaft diskutiert und verhandelt. Dabei sei es normal, dass politische Meinungen und subjektive Haltungen der Hosts offen dargestellt werden: „Die Late Night ist mittlerweile selbst ein Politikum geworden“, analysiert Sawallisch. Das ursprünglich in den 1950er Jahren entstandene US-Format hat sich im Laufe der Jahrzehnte erheblich weiterentwickelt. Damals noch stets komödiantisch, zeigten sich die Hosts insbesondere nach dem 11. September 2001 emotionaler. Late Night Giganten wie David Letterman oder Jon Stewart weinten vor der Kamera und machten die Late Night zu einer Bühne der Bewältigung des dramatischen Ereignisses für eine ganze Nation. Seitdem zeigen immer mehr Hosts starke Emotionen. So zeigen sich Moderatorinnen und Moderatoren nicht nur menschlich, sondern prangern auch politische und kulturelle Problemlagen an. Als Beispiel nennt Kulturwissenschaftlerin Nele Sawallisch Jimmy Kimmel. Er sprach in seiner Sendung über die Krankheit seines Sohnes, der kurz nach der Geburt am Herzen operiert werden musste. In einem bewegenden Monolog verknüpfte er seine persönliche Geschichte mit der mangelhaften Versorgung durch Krankenversicherungen in den USA und ungleichen Zugängen zu Gesundheit.
Das derzeit von weißen Männern dominierte Format könnte aufgebrochen werden, und die Frage „Wer darf über welche Themen sprechen?“ könnte in Zukunft immer häufiger auch mit „Frauen“ beantwortet werden, so Sawallischs These. Erste Schritte in diese Richtung sind bereits erkennbar: Taylor Tomlinson hostet nun mit „After Midnight“ eine der bekanntesten Late Night Shows. Für Kulturwissenschaftlerin Sawallisch, die auch zu „Funny Women“ forscht, bleibt die Late Night somit ein faszinierendes Forschungsfeld.
Cancel Culture
Wegen Diskriminierung, Rassismus oder Sexismus „gecancelt“. Das passiert angeblich Personen genau wie Organisationen und fiktiven Charakteren. Germanistik-Professorin Dr. Andrea Geier gibt Einblicke in aktuelle Debatten rund um die Kultur der Zensur.
Was haben Till Lindemann und Dieter Nuhr gemeinsam? Beide wurden angeblich Opfer der sogenannten Cancel Culture. Der Begriff, im Deutschen auch Absagekultur, findet sich in Feuilletons und Magazinen genauso wie in Social Media oder auf Comedy-Bühnenprogrammen. „Einzelne Fälle von Kritik an berühmten Personen oder Absage-Forderungen sollen für einen gesamtgesellschaftlichen Trend der Zensur und Denkverbote stehen“, ordnet Andrea Geier, Professorin an der Universität Trier, ein.
Fälle gäbe es dabei massig, meinen diejenigen, die den Begriff treffend finden. „Die diskutierten Beispiele sind sehr unterschiedlich gelagert und stehen keineswegs stellvertretend für eine Kultur der Zensur. Kritik ist nicht Zensur“, sagt die Forscherin. „Das Problem ist die Problembeschreibung.“ Konsequenzen fordern, protestieren, auf Missstände aufmerksam machen: Mit dem Begriff Cancel Culture werden legitime Mittel als Verbotskultur gebrandmarkt. Der Rammstein-Leadsänger wird für seinen Umgang mit weiblichen Fans kritisiert und Konsequenzen werden gefordert: Cancel Culture. Dieter Nuhr wird nach einem Auftritt Populismus vorgeworfen: Cancel Culture. Kommunikationsexpertin Geier meint jedoch: „Diese Fälle sind beispielhaft für einen Kulturkampf, der zuletzt massiv an Schlagkraft gewonnen hat. Produktiver wäre es, über Verantwortung zu sprechen.“
Verantwortung einer Band für ihre Fans, Verantwortung eines Künstlers für die eigenen öffentlichen Äußerungen, Verantwortung eines Veranstalters, Fernsehsenders oder Verlegers. Die Probleme, die an bekannten Persönlichkeiten festgemacht werden, treten bei der Cancel Culture in den Hintergrund: Es geht medial nicht mehr um Populismus, Rassismus oder Machtmissbrauch, sondern darum, wem etwas angeblich verboten werden soll. „Cancel Culture ist ein Diskussionsphänomen, das durch Medien verstärkt wird. Oft sehen Beschuldigte durch angebliche Verbote die Meinungs- oder Kunstfreiheit eingeschränkt. Tatsächlich geht es aber nicht um die Frage, ob man noch darf, sondern um die Frage, ob man noch sollte“, führt Geier aus. Beispielsweise, ob Till Lindemanns Gedichtband weiter vertrieben werden sollte und ob ein Künstler, der im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auftritt, wirklich pauschal Populismus verbreiten sollte. „Der Vorwurf des Cancelns erschafft ein Bedrohungsszenario für Freiheitsrechte. So wird vermieden oder verunmöglicht über eigentlich komplexe Probleme zu diskutieren“, gibt sie zu bedenken.
Ob Kunstschaffende von ihrem Werk zu trennen sind, wie viel politische Korrektheit sein muss oder welche Verantwortung die Unterhaltungsindustrie hat, sind Fragen, die gesamtgesellschaftlich ausgehandelt werden müssen. Cancel Culture-Rufe seien dabei hinderlich, meint die Forscherin und fordert: „Universitäten, Schulen, Kulturzentren oder Redaktionen müssen Orte sein, an denen die Problemlagen differenziert betrachten werden. Hier sollten wir aushandeln, welche Werte und Normen in der Gesellschaft vorherrschen.“ Im Privaten komme der Kulturkampf übrigens meist ohne die Vorwürfe der Cancel Culture aus. Medial wird er aber mit einer hohen Schlagzahl geführt.
Kulturelle Aneignung
Wo hört der Austausch zwischen Kulturen auf und wird zur einseitigen Aneignung? Diese Frage steht im Zentrum einer der hitzigsten Debatten unserer Zeit. Juniorprofessorin Dr. Gerhild Perl erklärt kulturelle Aneignung aus ihrer Perspektive als Ethnologin.
Wenn Laien Kultur definieren, fallen wohl häufig Begriffe wie Bräuche, Rituale oder Traditionen. Die wissenschaftliche Disziplin der Ethnologie sieht Kultur als lebendiges Netz aus Beziehungen, Praktiken und Diskursen. „Nach Beziehungen zu fragen, ist eine Frage, nach Kultur zu fragen, bereits eine Antwort“, beschreibt Gerhild Perl die Essentialisierung von Menschen, die oft mit dem Begriff Kultur einhergeht. „Kultur ist oft nur eine Projektionsfläche. Es gibt sie nicht in Reinform, denn Kulturen sind im stetigen Wandel und stehen stets in Beziehungen zueinander“, erläutert die Juniorprofessorin der Universität Trier. Menschen teilen Ideen, Rituale und Symbole miteinander – seit jeher. Sind diese Beziehungen geprägt von Symmetrie, ist kultureller Austausch natürlicher und positiver Teil menschlichen Zusammenlebens. „Ethnologische Forschung hat gezeigt, dass gegenseitiges Geben, Nehmen und Erwidern friedensstiftend wirken. Ein Beispiel sind Geschenke zu Weihnachten. Hier geht es zwar auch um die materielle, aber vor allem um die zwischenmenschliche Bedeutung“, erklärt Gerhild Perl.
Doch nicht jeder kulturelle Austausch ist symmetrisch. Wenn dominante Gruppen Elemente einer anderen Kultur übernehmen, ohne die Bedeutung und den Kontext des Kulturguts zu beachten, spricht man von kultureller Aneignung. Der Kulturtheoretiker Greg Tate beschreibt in „Everything But The Burden“ (2003), wie die US-amerikanische weiße Kulturindustrie ihre Inspiration etwa für Musik oder Humor aus der afro-amerikanischen Kultur schöpft. Weiße hätten alles übernommen, außer die große Last, Schwarz zu sein. Aber nicht nur in den USA steht das Thema auf der Agenda. Vorwürfe der kulturellen Aneignung häufen sich hierzulande insbesondere zur fünften Jahreszeit. Federn im Haar, bunte Striche auf den Wangen oder mit Mustern geschmückte Kleidung – im Karneval werden Kostüme zur überzeichnenden Darstellung von gesellschaftlichen Gruppen. Auch Gerhild Perl sieht solche Verkleidungen als problematisch an: „Historisch privilegierte Gruppen bedienen sich hier aus komplexen Traditionen und Geschichten der Kulturen marginalisierter Gruppen. Das so entstandene Machtgefälle und die asymmetrische Übernahme verstärken bestehende Ungleichheiten und können für betroffene Gruppen verletzend sein.“ Ein weiteres Beispiel ist die Kommerzialisierung kultureller Symbole. Ein traditionelles Textilmuster, das in seiner Herkunftskultur tiefe Bedeutung hat, wird auf dem globalen Markt als modisches Accessoire verkauft. „Hier wird Kultur zur Ware – etwas, das gekauft und verkauft wird, ohne Rücksicht auf den kulturellen Kontext“, so die Expertin.
Aber warum ist das relevant? „Es geht nicht darum, den Austausch zwischen Kulturen zu verhindern – das wäre gar nicht möglich und hätte gesellschaftlich und politisch fatale Folgen. Die Diskussion um kulturelle Aneignung fordert uns dazu auf, über unsere Rollen und Privilegien nachzudenken und erinnert uns daran, Geschichte und Bedeutung kultureller Symbole zu verstehen, anstatt sie einfach zu konsumieren“, fasst Ethnologin Perl zusammen.
Erinnerungskultur
Das Erinnern an die NS-Zeit ist heute wichtiger denn je. Das sagen die Historikerin Dr. Lena Haase und der Historiker Dr. Thomas Grotum. Allerdings braucht es neue Formen des Gedenkens.
Die x-te Fernsehdokumentation über die Nationalsozialisten. Jedes Jahr am 9. November Zeitungsberichte über die Reichspogromnacht 1938 und die Angriffe auf Synagogen sowie weitere jüdische Einrichtungen. Lena Haase und Thomas Grotum verstehen nicht, warum manch einer sagt, dass man aufhören sollte, die NS-Zeit zu thematisieren. „Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen – das Erstarken von rechts-außen Parteien – zeigen, dass es dringend notwendig ist, an die nationalsozialistische Vergangenheit zu erinnern“, stellen die beiden Historiker der Universität Trier heraus. Gemeinsam mit Prof. Dr. Lutz Raphael leiten sie die Forschungs- und Dokumentationsstelle SEAL (Strukturen und Erinnerung. Angewandte Geschichtswissenschaft und Digitale Lehre).
Um die Erinnerung wach zu halten und vor allem auch die junge Generation zu erreichen, müssen ihrer Meinung nach neue Formate des Gedenkens entwickelt werden. Haase: „Formen des Erinnerns wie Kranzniederlegungen oder das Anbringen von Gedenktafeln sind in der Politik stark verinnerlicht. Natürlich sind sie Teil der Erinnerungskultur, die auch nicht wegzudenken sind.“
Die Forschungs- und Dokumentationsstelle SEAL geht jedoch auch neue Wege. Beispielsweise hatten die Historikerinnen und Historiker der Universität gemeinsam mit weiteren Partnern zum internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus 2022 die Aktion „Erinnerlicht“ organisiert. An der Porta Nigra konnte mit dem Handy ein Licht gespendet werden. Dabei
erschien zufällig ein Foto und Informationen einer jüdischen Person aus der Region Trier, die zwischen
1941 und 1943 deportiert wurde.
„Besonders in Trier ist, dass die Erinnerungskultur durch die Nähe zu Luxemburg, Frankreich und Belgien auch transnational ist. Eigentlich muss man im Plural von Kulturen sprechen“, so Grotum. Haase ergänzt: „Natürlich haben die Menschen auf der anderen Seite der Grenze in der NS-Zeit andere Erfahrungen gemacht als hier. Doch Verfolgung gab es auf beiden Seiten. Das gemeinsame Erinnern wollen wir in den Vordergrund stellen.“ Ein digitaler Atlas, an dem Forschende der Universität Trier mitgearbeitet haben, zeigt zum Beispiel Erinnerungsorte der Großregion.
Ihre Aufgabe sehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von SEAL aber nicht nur in aktiver Erinnerungsarbeit, sondern auch in Grundlagenforschung. Zwar ist die NS-Zeit stark erforscht, aber es gibt immer noch weiße Flecken. Im laufenden Wintersemester beschäftigen sich Geschichtsstudierende unter der Leitung von Lena Haase mit ebenso einem Thema: den Biografien von Opfern der NS-Patientenmorde der Region Trier. Entstehen soll ein digitales Gedenkbuch – jederzeit und überall von der Welt von allen Interessierten abrufbar. Denn Erinnerungskultur hört eben nicht an Ländergrenzen auf.
Kulturelles Miteinander
In Nachbarschaftshäusern kommen Menschen unterschiedlichen Hintergrunds zusammen. Gleichberechtigtes Lernen steht im Mittelpunkt. JProf. Dr. Robert Jungmann forscht zu dieser besonderen Organisationskultur.
Kritik kann Triebkraft für eine innovative Organisationskultur sein. Das ist kurz zusammengefasst das Ergebnis einer Fallstudie, die Robert Jungmann (Universität Trier) gemeinsam mit Florence Eyok (TU Berlin) durchgeführt hat. „Dass Kritik an den staatlichen Integrationsmaßnahmen für Geflüchtete nicht nur eine rein intellektuelle Überlegung ist, sondern in der Ausgestaltung einer alternativen Organisation mündet, finde ich faszinierend“, sagt der Trierer Juniorprofessor für Soziologie. Untersucht haben er und seine Kollegin das Fallbeispiel eines Nachbarschaftshauses, bei dem die Gründerinnen und Gründer staatliche Unterstützung komplett ablehnen. Schon vor dem „langen Sommer der Migration“ 2015, durch den das Thema stärker in den öffentlichen Fokus rückte, haben die Ehrenamtlichen Geflüchteten geholfen. Dabei haben sie erlebt, dass Integration in den Aufnahmeeinrichtungen für Asylbegehrende nicht auf Augenhöhe und im gegenseitigen Austausch stattfindet. Die Inhalte der Integrationskurse waren minutiös vorgegeben und wenig flexibel. Auf die Bedürfnisse und Kultur der Menschen vor Ort wurde nur wenig eingegangen.
Wie viele Nachbarschaftshäuser es in Deutschland gibt, ist nicht bekannt. Was sie vereint: Sie wollen offener Treffpunkt für Menschen verschiedener Kulturen und unterschiedlicher Lebenslagen sein. Vereine, Gruppen und Initiativen nutzen die Nachbarschaftshäuser als Veranstaltungsort. Gemeinsame Feste werden gefeiert. Aber sie bieten auch Raum, um einfach zusammenzukommen – für ein Bier oder zum Schachspielen. „Man teilt in Nachbarschaftshäusern einen kulturellen Wert: Es gibt Hilfe unter Menschen und auf Augenhöhe. Das heißt auch, man lernt voneinander und geht eben nicht davon aus, dass man als Gesellschaftsmitglied bestimmte kulturelle Gepflogenheiten erlernt haben muss“, beschreibt Jungmann das Konzept. Neben Deutschkursen werden beispielsweise auch Arabischkurse angeboten. Gemeinsam wird besprochen, wie sie stattfinden sollen.
Doch auch in Nachbarschaftshäusern braucht es immer jemanden, der sich kümmert, weiß Jungmann. Sonst läuft es nicht. Die ehrenamtlich Engagierten haben den Forschenden berichtet, dass sie sich manchmal in eine Lehrer- bzw. Entscheider-Rolle gedrängt fühlen, obwohl sie eigentlich nicht wollen, dass nur eine Person entscheidet. Möglichst alle Themen werden im Plenum diskutiert. Nachbarschaftshäuser möchten eine Kultur leben, in der nicht nur einer gehört wird oder eine Gruppe dominiert.
Wie erfolgreich sind Nachbarschaftshäuser in der Integrations- und Kulturarbeit? „Man muss natürlich sehen, dass sich nur eine vergleichsweise kleine Zahl an Leuten in Nachbarschaftshäusern trifft. Auf Dauer braucht es engagierte Personen oder professionelle Unterstützung.“ Ein mögliches Vorbild ist laut Jungmann das kanadische Modell: Dort arbeiten in Nachbarschaftshäusern zum Teil auch Festangestellte und sie stehen einer viel größeren Besucherzahl zur Verfügung. Die Frage, wie sich die Organisationskultur in deutschen und kanadischen Nachbarschaftshäusern unterscheiden, möchte der Trierer Soziologe in einer weiteren Studie nachgehen.