Wissenschaftliche Erkenntnisse aufgreifen
Nun hat die Reform des Psychotherapeutengesetzes die Diskussion über ein theorie- und schulen-übergreifendes Konzept der Psychotherapie neu entfacht. Einer der maßgeblichen Treiber der Idee ist der Trierer Professor Wolfgang Lutz. An der Universität Trier wird zwar eine moderne kognitive Verhaltenstherapie gelehrt. Die Psychotherapeuten-Ausbildung zeichnet sich aber unter anderem dadurch aus, dass sie, wo nur möglich, auch Ansätze anderer Verfahren aufgreift. Nach Lutz‘ Vorstellungen sollten die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien in die Behandlung aller Therapieschulen einfließen, denn eine Therapie wirke sich oft auf verschiedene Bereiche aus. Der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie erklärt es so: Wenn zum Beispiel eine Patientin oder ein Patient mit einer chronischen Depression sein Verhalten ändert, etwa aktiver wird und wieder Freunde trifft, ändert das auch seine Emotionen und Bedürfnisse. Wenn man seine Gefühle und Bedürfnisse besser versteht und beeinflussen kann, ändert das wiederum das Denken. „Dies wird in den einzelnen Schulen zu wenig berücksichtigt. Eine überdachte Psychotherapie-Ausbildung sollte diese Zusammenhänge aufgreifen“, so Lutz.
Beobachtung des Therapiefortschritts
Sollte eine von den verschiedenen Schulen stärker losgelöste Therapie möglich werden, könnte diese individueller auf den Patienten beziehungsweise die Patientin zugeschnitten werden. Lutz vergleicht es mit der Krebstherapie, bei der die Behandlung auf den Erkrankten abgestimmt ist. Die Psychotherapie wäre dann ein Mix verschiedener Ansätze, bei der jeweils das wissenschaftlich beste Vorgehen für den psychisch erkrankten Menschen angewandt wird. „Redet man mit Vertretern von Patientenvereinigungen, interessieren sich Erkrankte meist weniger für die Schulen als vielmehr dafür, ob die Therapie wirkt.“ Wenn die Therapie stärker personalisiert wird, macht dies wiederum ein stetiges Monitoring des Therapiefortschritts notwendig. „Das ist einer der Kernbausteine des Konzepts“, konstatiert Lutz. Hier könnte der Trierer Therapie Navigator (TTN) zum Einsatz kommen, der im Rahmen eines durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts entstanden ist. Die an der Universität Trier entwickelte Software hilft Therapeutinnen und Therapeuten beispielsweise zu erkennen, wenn die Behandlung ins Stocken gerät, neue soziale Konstellationen die psychische Erkrankung beeinflussen oder gar das Risiko für einen Suizidversuch besteht. Für die Einschätzung wertet der Trierer Therapie Navigator die Angaben von Patientinnen und Patienten im Rahmen von regelmäßigen Evaluationen der Therapie aus und macht Vorschläge wie das therapeutische Vorgehen verbessert werden kann. Die Effektivität des TTN wurde an der Universität Trier in einer Studie, an der über 1.000 Patientinnen und Patienten teilgenommen haben, umfangreich wissenschaftlich getestet.
Doch was sagen andere Psychotherapeutinnen und -therapeuten zu Lutz´ Konzept einer schulenübergreifenden Behandlung? Die redaktionelle Vorbemerkung zu Lutz´ Artikel im Psychotherapeutenjournal lässt erahnen, dass lange nicht jeder seine Ansichten teilt und bereit ist – zumindest ein Stück weit – vom Narrativ der jeweiligen Schule abzuweichen. „Ungefähr zwei Drittel der Leserbriefe, die ich daraufhin bekommen habe, waren positiv. Ein Drittel steht der Idee eher kritisch gegenüber“, erzählt Lutz. In der Praxis sind die Ansichten und Auffassungen zwischen den einzelnen Schulen manchmal gar nicht so groß, beobachtet der Psychologie-Professor. Größer sei die Vielfalt der Annahmen innerhalb der einzelnen Schulen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Vordenker Sigmund Freud haben sich die einzelnen Schulen entwickelt, voneinander entfernt, aber auch innerhalb ihres eigenen Rahmens differenziert. Die Konzepte der heute anerkannten Schulen stammen größtenteils aus den 1970er Jahren. Ob es Freud gefreut hätte, wenn etwas frischer Wind in die Psychotherapie kommt? Vermutlich ja, denn auch er hat mehrmals seine Ideen neuen wissenschaftlichen Entwicklungen angepasst.