Verschiedene Richtungen, unterschiedliche Geschwindigkeit

Gastprofessor Stefan Hradil zu den Kräften, die Europa auseinandertreiben

Was Europa verbindet, hat Stefan Hradil als Gastprofessor in seiner ersten Vorlesung an der Universität Trier erläutert. In seinem zweiten Vortrag widmete sich der Mainzer Soziologe den Kräften, die Europa auseinandertreiben. Hradil ist überzeugt, dass die Länder Europas faktisch enger zusammengewachsen sind, als es von den Menschen wahrgenommen wird.

Auseinandertreibende Kräfte entstehen, wenn  sich Gesellschaften in verschiedene Richtungen oder in die gleiche Richtung, aber in unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen. Zum Beispiel in der Wirtschaft: Die europäischen Gesellschaften wandelten sich von der Agrar- über industrielle zu postindustriellen Gesellschaften mit einem dominanten Dienstleistungssektor. Diese Entwicklung durchliefen die Länder Europas von verschiedenen Ausgangspunkten aus und auf unterschiedlichen Wegen. Wirkliche Industriegesellschaften hätten sich, so Hradil, nur in Deutschland und Großbritannien herausgebildet. Deutschland habe nach der Finanz- und Schuldenkrise von der weiter starken Industrialisierung profitiert. Die Krisen hätten insbesondere im Dienstleistungssektor Jobs gekostet, die in Deutschland durch das produzierende Gewerbe aufgefangen wurden. Ein weiterer Grund für Differenzen sei der nach wie vor unterschiedliche Stellenwert der Agrarwirtschaft in den Ländern Europas, der sich im beständigen Streit um Subventionen manifestiert.

Aber auch unterschiedliche Familienstrukturen und Lebensformen entfalten laut Hradil  auseinandertreibende Kräfte. Im nördlichen Europa  verlangen überproportional viele  „unkonventionelle“ Lebensformen (Alleinlebende, Alleinerziehende) wegen eines erhöhten Armutsrisikos nach einem starken Sozialstaat. Aufgrund hoher Erwerbsquoten und  entsprechender Steueraufkommen war es diesen Ländern finanziell möglich, soziale Leistungen und Absicherungen aufzubauen. In überwiegend traditionellen Lebensformen (Großfamilien) in südlichen Regionen ist soziale Unterstützung durch den Staat in geringerem Maß erforderlich, entsprechend ist der Sozialstaat schwächer ausgeprägt und wegen geringerer Erwerbsquoten auch kaum finanzierbar. Diese Entwicklungen sind Zündstoff in der Debatte um die Angleichung der Sozialpolitik in Europa.

„Das Thema gemeinsame Sozialpolitik ist ein Mienenfeld. Die Europäische Union fährt daher keinen Kurs der Harmonisierung, sondern verfolgt eine Strategie der gemeinsamen Mindestabsicherung“, führte Hradil in der anschließenden Diskussion aus. Er würde bereits eine gemeinsame europäische Armutsbekämpfungspolitik als einen Erfolg erachten.

„In der dritten und abschließenden Vorlesung am 1. Juli wird es darum gehen, Möglichkeiten aufzuzeigen, die meines Erachtens zu einer positiven Entwicklung in Europa beitragen könnten“, kündigt der Inhaber der vom Freundeskreis Trierer Universität gestifteten Gastprofessur an.

Montag, 1. Juli, 18.15 Uhr, Hörsaal 4
Prof. Dr. Dr h.c. Stefan Hradil: „Wohin führt Europas Weg?"